Als schliefe sie
auch Weiße Stadt oder Rose Galiläas genannte Ortschaft über der Mardsch-Jbn-Âmir-Ebene mit ihren drei Vierteln, dem griechisch-orthodoxen, dem maronitischen und dem lateinischen Viertel, war von Weihrauchduft und Poesie erfüllt. Milia kannte ohnehin keine andere Stadt als Beirut. Und selbst von Beirut kannte sie nur wenig. Das Viertel, in dem sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte. Die Straße, in der ihre Großmutter Malika lebte. Die Bäckerei, aus der eine flüchtige Liebesgeschichte hervorgegangen war. Und das Meer, das ihr anfangs ungeheuer war, dann aber in ihre Träume einging als ein Tor zu fernen, neuen Welten. Milia hätte im Grunde nichts gegen eine Reise nach Jaffa gehabt, wäre da nicht die Sorge um das Kind in ihrem Bauch gewesen. Richtig, sie hatte während der Schwangerschaft eine innige Beziehung zur Stadt Nazareth aufgebaut. Wegen ihrer Heiligkeit. Wegen der blauen Frau, die ihr in den Träumen erschien. Wegen der Begegnung mit Tanjûs und der geheimen Orte, die sie durch ihn entdeckte. Letzten Endes aber, das wusste Milia nur zu gut, hatte eine Frau ihrem Mann zu folgen, wohin der wollte. Doch da waren die Angst, die Todesahnung, die Gesichter der blonden Männer in der Kirche in Jaffa, der von Tod geschwängerte Orangenduft. Sie wollte Mansûr von dem Traum mit dem Sarg erzählen, ihn damit vom Umzug abbringen. Aber er glaubte ihren Träumen nicht mehr. Also hüllte sie sich in ihre Traurigkeit, nahm seinen Ärger hin und lebte die beiden letzten Monate der Schwangerschaft nahezu allein.
Sie sah ihre Großmutter im Traum. Hasîba in Nazareth. Dort ist auch der französische Offizier. Der Offizier streckt der Frau in Schwarz die Hände entgegen. Die Frau steht in einiger Entfernung, rührt sich nicht von der Stelle. Milia tritt an den Offizier heran, sagt ihm, dass Hasîba geheiratet und ihn vergessen hat. Dass sie nicht zu ihm kommen kann, weil sie ans Bett gefesselt ist. Dass sie außerdem die Sprache verloren hat. Der Offizier hört sie nicht. Er scheint sie nicht zu hören oder nicht zu verstehen. In Beirut hatte Milia nie von der Großmutter und ihrem Offizier geträumt. Warum also erschienen sie ihr auf einmal hier in Nazareth? Milia war überzeugt, dass es den Offizier nicht wirklich gab. Das Ganze hatte sich Hasîba bestimmt nur ausgedacht, um vor sich zu rechtfertigen, dass sie alle Brautwerber abgelehnt und erst spät geheiratet hatte und dass sie so introvertiert war. Milia sah sich selbst im Traum. Klein, in ihrem Zimmer in Nazareth. Im Bett liegt die Großmutter. Das Mädchen schaut aus dem Fenster. Draußen in der Ferne steht Ferdinand, die Arme ausgestreckt. Er bückt sich, fällt hin. Milia wird bange. Mansûr war nicht da, um sie vor den nächtlichen Wesen zu beschützen.
Palästina sei von Fluch und Sünde beherrscht, hatte er gesagt, als sie heirateten.
»Gott ist schuld«, schob er nach. »Versteh mich bitte nicht falsch. Das soll um Himmels willen keine blasphemische Äußerung sein. Aber die Menschen begreifen einfach nicht, warum Gott unter Tausenden von Städten diese eine zu seiner Stadt erklärt hat. Warum er ein Land, das so klein ist wie ein Getreidekorn, zum Land seines einzigen Sohnes bestimmt hat. Seit Anbeginn der Schöpfung wurden und werden sämtliche Kriege hier ausgetragen. Als der Ägypter Echnaton den Ein-Gott entdeckte, schauten alle auf das Land Kanaan, weil dies Gottes Erde ist. Und im Nu brachen endlose Kriege aus. Die Kriege haben erst ein Ende, wenn Gott sich entschließt, seine Stadt aufzugeben oder sie erneut aufzusuchen. Aber das wird er nicht tun. Keine Sorge, ich bin bei dir und werde nicht zulassen, dass dir auch nur ein Haar gekrümmt wird. Diesem Land stehen viele Kriege bevor. Aber wir werden davon verschont bleiben. Keiner wird es wagen, Krieg in Nazareth anzuzetteln. Du und ich werden leben, und über uns wird Frieden herrschen.«
An die Sache mit dem Frieden glaubte Milia nicht. Aber Mansûr hüllte sie in seine Worte ein. Sie brauchte ihm nur zu lauschen, und schon wurde ihr wohlig zumute. Sie hatte das Gefühl, von ihm fortgetragen zu werden. Hatte das Gefühl, die Gedichte, die er rezitierte, umtanzten ihre Augen und entführten sie in eine von seiner Stimme erschaffene magische Welt. Sie liebe seine Stimme, sagte sie. Liebe die rauchige Heiserkeit, die von Tabak- und Kaffeegenuss herrührte. Ein zärtlicher, im Rhythmus der Metren arabischer Poesie wogender Klang. Sanft, gedämpft wie Samt. Wie auf seine Stimme gebettet,
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