Als schliefe sie
entschwebte sie in seine fernen Welten. Doch dann entdeckte sie, dass er ein großes Geheimnis verbarg. Dass er bei ihr Schutz suchte. Er hatte ihr Schutz versprochen. In Wirklichkeit aber hatte er zu ihrer Welt Zuflucht genommen, um der Gefahr zu entkommen, die Jaffa drohte.
»Ich habe nichts dagegen, nach Jaffa zu gehen oder wohin auch immer du willst. Aber ich bin schwanger und kann das jetzt nicht.«
Milia hatte sehr wohl Verständnis dafür, dass die Schlosserei zur Verteidigung der Stadt eingesetzt werden sollte, auf deren Schultern eine neue Stadt namens Tel Aviv heranwuchs, die es darauf abgesehen hatte, sich Jaffa und das gesamte Land einzuverleiben. Dennoch verabscheute Milia Gewalt und Blut. Und sie hatte Angst um ihren Sohn.
Hatte denn nicht ihr Opa ihren Vater getötet?
Warum sagte sie so etwas? Sie wusste doch, dass das nicht der Fall war.
»Aber er wollte ihn umbringen«, hatte Saada ihr gesagt. »Und hätte Gott nicht seine schützende Hand ausgebreitet und die Mutter nicht so ein reines Herz gehabt, dann wäre es mit dem Jungen aus und vorbei gewesen.«
Hatte der Mann seinen Sohn getötet? Oder hatte er ihm, wie er behauptete, den Stein an den Kopf geworfen, weil er ihn nicht erkannte? Unwichtig. Was hatte Milia mit ihrer Großmutter zu tun? Und was mit diesem Märchen, das zu einer von diffusen Träumen umhüllten Erinnerung verblasst war?
Die Geschichte war Milia plötzlich wieder in den Sinn gekommen. Nach Amîns Tod, in den letzten beiden Monaten der Schwangerschaft, heimgesucht von Jaffas Geistern.
»Das interessiert mich nicht«, wehrte sie ab.
Statt dass Mansûr wie versprochen am Tag darauf aus Jaffa heimkehrte, kam er erst drei Tagen später zurück.
»Ich musste länger bleiben«, sagte er, las in ihren Augen Zweifel und verhaspelte sich. »Ich hatte keine Möglichkeit, dich zu benachrichtigen.«
»Das interessiert mich nicht. Lass gut sein! Bitte!«
Sie hörte Satzfetzen aus dem Mund ihrer Schwiegermutter. »Mansûr hätte lieber nicht so überstürzt heiraten sollen. Was soll bloß aus der Frau und den Kindern werden?«
Milia verstand. Ihre Schwiegermutter hätte es gern gesehen, dass Mansûr die Witwe seines Bruders heiratete, so wie es in solchen Fällen üblich war. Doch das war nun nicht mehr möglich.
»Getan ist getan. Und vorbei ist vorbei«, kommentierte Milia in libanesischem Dialekt.
»Was sagst du da?«, fragte Mansûr.
»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass es mir egal ist. Tu, was du willst. Aber mach mich nicht verrückt. Ich bin nicht meine Großmutter. Ich werde mich weder aufregen noch etwas sagen. Mir genügt dieses Kind.«
Nein, Milia hat nichts dergleichen gesagt. Ihre Schwiegermutter bedauerte nicht, dass Mansûr bereits vergeben war und folglich die Witwe seines Bruders nicht heiraten konnte. Das hat sich Milia alles eingebildet, als sie auf ihren Mann wartete. Endlich zurückgekehrt, küsste er sie und sagte, dass er müde sei und schlafen wolle.
»Ich wünschte, ich würde einschlafen und nie wieder aufwachen«, sagte er.
»Mal den Teufel nicht an die Wand«, wehrte Milia ab, biss sich auf die Unterlippe und schmeckte Blut.
Milia wälzte sich im Bett. Sie hörte Mansûr. Er rief sie aus der Ferne. Sie versuchte die Augen zu öffnen, wollte »aufhören« rufen. Doch das Glas zerriss ihre Lippen. Sie sitzt auf der Schaukel, fliegt durch die Luft. Der Wind umspielt sie. Das Brett hängt an zwei langen Seilen. Sie schaut hinauf, sieht den Feigenbaum nicht. Wo war sie jetzt? Da ist eine Schaukel, aber der Baum fehlt. Der Garten sieht aus wie der Garten ihres neuen Hauses in Nazareth. Wie war die Schaukel hierhergekommen? Sie will sich hinstellen. Die Hände fest um die Seile, steht sie auf dünnen Beinen. Die Knie angewinkelt, den Oberkörper nach vorn gebeugt, holt sie Schwung und steht auf. Sie fliegt, immer höher. Oben ist nichts. Nur Höhe. Grauer Himmel. Angst. Ihr Herz stürzt in die Tiefe. Sie schaut hoch, sieht nur grauen, wolkenverhangenen Himmel. Plötzlich lösen sich ihre Hände von den Seilen. Wie von einer geheimen Kraft katapultiert, schießt sie in die Luft, die Arme von sich gestreckt, die Hände ins Nichts greifend, als hätte man sie gekreuzigt. Dann beginnt sie zu fallen. Sie hört einen Schrei, schmeckt Blut auf der Zunge.
Milia riss die Augen auf. Im Zimmer war niemand. Ihr Herz raste, die Ohren dröhnten. Sie wollte aufstehen, bemerkte die Schmerzen. Schmerzen im Bauch. In kleinen, aufeinanderfolgenden Wellen kamen und
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