Als würde ich fliegen
Augenblicke lang am Kirchentor festhalten musste, bevor er öffnete, oder dass er sehr langsam durch den düsteren Unkrauthof ging. Er war viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. War er verliebt oder nicht? Und falls ja, in eine abstrakte Carla (gut aussehend, gute Tänzerin, Kiefernhaut, angenehmes Wesen) oder in die reale Carla? Als sie zusammen gewesen waren, war sie ihm schon manchmal etwas unreif erschienen, etwas mädchenhaft und oberflächlich, mit ihrem Klamottenfimmel, immer musste sie rumlaufen, als wär sie auf dem Weg zu einer coolen Party. Und sie lag, anders als Oscar, so gar nicht auf seiner Wellenlänge, wenn er über das Tanzen sprechen wollte. Was, wenn sie wieder zusammenkämen und ihn das wieder stören würde? Welchem Gefühl sollte er trauen? Zu allem Überfluss hatte er den Kopf mit der Show so voll, dass er sowieso keinen klaren Gedanken fassen konnte.
»Bei ihr finde ich Ruhe«, sagte er, nicht an Oscar gerichtet, eher ein lauter Fetzen seiner rasenden Gedanken.
Oscar versuchte, behände die Kellertreppe hinunterzuspringen. Er hielt sich am Geländer fest und schaukelte einen Schritt nach unten. Er fasste sich ans Knie. Es bereitete ihm heftige Schmerzen.
»Und diese Beine«, scherzte er, »haben einst Pirouetten gedreht.«
»Red dir doch nichts ein, Oscar – deine wilden Zeiten sind noch lange nicht vorbei.«
»Nein«, sagte er mit größerem Ernst. »Ich brauche einen Stock. Das war der längste Spaziergang meines Lebens.«
Antoney lehnte sich über das Geländer. »Also, wie siehst du das, mit ihr und mir?«
»Wie ich das sehe? Hey, das Mädchen ist ein Traum.«
»Wirklich?«
»Aber ja, sie ist … Welcher Ausdruck passt hier?« Oscar schaute in den blauen Abend, auf den Großen Wagen und den weißen Halbmond. »Ah, ja. Funkelnd«, sagte er. »Sie funkelt.«
Antoney kehrte mit einem Lächeln in die Bassett Road zurück. Sie funkelt, sie funkelt. Er wohnte nicht mehr im selben Zimmer wie Florence, sondern hatte den Abstellraum im Erdgeschoss bezogen, obwohl seine Mutter ihn immer noch bekochte. Florence war bei Sheryl, sie hatten den Nachmittag mit Bette Davis und Das Leben der Mrs. Skeffingto n verbracht und sich nur ein- oder zweimal draußen die Beine vertreten. Nun sahen die beiden hinaus auf den Müll, auf die Nachzügler und heimstrebenden Flaneure. Die Parade, so sagten sie, habe sie an die Heimat erinnert, alles war auf den Beinen, und dann die Kostüme, die Kinder – mit einem Mal hatten die Straßen ein fröhliches Gesicht. Aber sieh dir all den Müll an, sagte Florence. Den werden sie sicher erst nächsten Monat wegräumen, erwiderte Sheryl. Noch wehte Silbermusik im Nachtwind. Die Spaziergänger schritten weiter, vielleicht ahnten sie, dass sie immer weitergehen, sie am Ende eines jeden Sommers in immer größerer Zahl von künftigen Maskeraden heimkehren würden, als dann die Musikwagen mitmachten und der Calypso zu Soca wurde, als sich lateinamerikanische Rhythmen und Hip-Hop-Soundanlagen dazu mischten, die Grillstände ganze Straßen in Beschlag nahmen und Hunderttausende von überall auf der Welt herbeiströmten – als sich diese schäbige, kleine, bunt gemischte Parade, die sich zwischen den Linienbussen hindurchgewunden hatte, zum Notting Hill Carnival entwickelt hatte.
Carla lebte ebenfalls bei ihrer Mutter, in einem der neuen, viergeschossigen Mietblöcke hinter der Harrow Road. Sie waren Westway-Flüchtlinge. Toreth machte Antoney dafür verantwortlich. Er war einer von denen , die mit den orangefarbenen Helmen, die ihr kleines Häuschen an der Latimer Road zerstört hatten, ihren Gemüsegarten, ihr Wohnzimmer nach Süden, und, ja, es hätte sicher größer sein können, und ja, hin und wieder hatte es auch hereingeregnet, aber es war doch ihr Heim, das Haus, über dessen Schwelle Carlas Vater sie an ihrem Hochzeitstag getragen hatte. Dort war er überall zugegen, in ihrem Haus.
Er hieß Freddy Bruce und stammte aus Dominica, einer der Inseln über dem Winde. Er und Toreth hatten sich 1943 kennengelernt, während seines Heimaturlaubs von der Luftwaffe – Toreth hatte ein Ei auf seinen Schuh fallen lassen, als sie aus dem Lebensmittelladen auf der Portobello Road gekommen war. In ihrem Korb, in Pergamentpapier verpackt, lagen Mehl, Kekse, Zucker und was-nicht-alles, und obenauf die Eier. Sie hatte eine Dreiviertelstunde lang anstehen müssen und war genau in dem Moment aus dem Laden geeilt, als Freddy mit seinem Freund vorüberging. Sie
Weitere Kostenlose Bücher