Als würde ich fliegen
Füllfederhalter, den er gelegentlich in seiner Handfläche hin und her rollte. Die andere Hand lag auf der Tür, bereit, sie Lucas jeden Moment vor der Nase zuzuschlagen. In einem letzten verzweifelten Versuch, diese Tür offen zu halten, holte Lucas eine Ausgabe der West aus seiner Tasche und erwähnte das Feature, an dem er schrieb (seit seinem Treffen mit Simone waren vier Wochen vergangen, und trotz erheblicher Anstrengungen hatte er noch nichts Vorzeigbares produziert). Er war sicher, dass er nun seines Weges geschickt würde, aber dann sagte sein Gegenüber ernst, mit leicht argwöhnischem Unterton: »Wie gehen Sie es an?«
Lucas dachte rasch nach. »Retrospektiv.«
»Woher haben Sie meine Adresse?«
»Aus dem Internet.«
»Sie hätten mir erst einmal einen Brief senden sollen. Schreiberlinge ertrage ich nicht.«
Damit machte er Anstalten, die Tür zu schließen. Lucas zerbrach sich den Kopf nach einem anderen Zugang. Ihm fiel ein, was er empfunden hatte, als er in der British Library Rileys Schilderungen von Antoney und seiner Truppe gelesen hatte. In der Stille dieser hohen Säle, vor deren Fenstern das Leben auf der Euston Road pulsierte, hatte er beinahe gehört, wie die Tänzerinnen – Carla, Simone, Milly – atmeten und ihre roten Viskoseröcke rauschten. Die raschen Schritte seines Vaters hatten auf seinem Lesepult vibriert.
»Mir haben Ihre Worte gefallen«, sagte er in einem anderen, einem vertraulicheren Tonfall. »Seine ›typische, wild donnernde Drehung‹. Das ist eine tolle Beschreibung.«
Die Junisonne schien in Mr. Rileys Augen, die sich nicht zwischen Grau und Blau entscheiden konnten. Sie sagten: »Schmeichelei verfängt bei mir nicht, junger Mann.« Doch als diese Augen auf Lucas’ Gesicht verweilten, zitterten Mr. Rileys brandygerötete Lippen leicht. Offensichtlich fürchtete er sich vor etwas, aber auch nicht genug, oder vielleicht war er einfach zu neugierig, um die Tür zu schließen.
»Ich wollte gerade das Haus verlassen«, sagte er. »Viel Zeit habe ich also nicht.«
Das Haus war in zwei Wohnungen aufgeteilt, Mr. Riley hatte das Erdgeschoss. Als Lucas ins Innere trat, verschwand der Juni. Der Flur war düster, schummerig und roch nach Katze, die Atmosphäre war so schwer, dass er sich instinktiv duckte, wie auf dem Boot. Das Haus wirkte nicht eigentlich schmutzig. Doch sein gesamter Inhalt, der Teppich, die Wände, der Lampenschirm mit seinen Quasten, all das schien so alt, als hätte sich der Staub darin entschieden, für immer dazubleiben. Trotzdem, Lucas war zufrieden, dass er so weit gekommen war, und beglückwünschte sich zu guter Tür-Taktik. Mr. Riley führte ihn langsam einen breiten Korridor entlang, von dem mehrere Zimmer abgingen. Die erste Tür stand einen Spalt weit offen, die zweite offenbarte eine altmodische Formica-Küche, die dritte war verschlossen. An der Schwelle zum vierten Zimmer, am Ende des Korridors, blieb Mr. Riley stehen. Sein Gang war immer langsamer geworden, und während sie den Korridor durchschritten hatten, hatte er sich verstohlen umgeblickt. Sein Rücken war von den Jahren niedergedrückt, sein Kinn lag am Hals auf. Bedächtig sagte er zu Lucas: »Bitte fassen Sie im Arbeitszimmer nichts an.«
Sie betraten ein großes, hässliches Zimmer. Das bräunliche Achteckmuster der Tapete war ungewollt retro, der Teppich ein verblichenes Blau. Vor der gegenüberliegenden Wand stand ein klobiger Mahagoni-Schreibtisch, darauf eine altmodische Schreibmaschine, inmitten von leuchtenden Post-its, Tassenrändern, Büchern, Papieren, daneben eine Ansiedelung von Kartons und grünen Lederschachteln. In einer Ecke kauerte ein paisleygemustertes Sofa. Die durchgebogenen Regale vor der Wand verlangten verzweifelt nach einem Schreiner. Ein Bord war allein dekorativen Kultgegenständen gewidmet – Glaselefanten, angeschlagenen Porzellanfiguren in Tanzposen, Miniaturballettschuhen, Briefbeschwerern und gerahmten Fotografien. Der Inhalt des Zimmers hatte sich offenbar im Laufe von Jahrzehnten angesammelt – hier ein antiker Zeitungsständer, dort ein metallener Aktenschrank – unter der einzigen Maßgabe, die zum Zeitpunkt ihrer Anschaffung an sie gestellten Forderungen zu erfüllen. Für Lucas war dies eine Zeitreise, ein Ausflug in die Arbeitshöhle eines Menschen, der nur wenig Kontakt zur Außenwelt hatte. Das Zimmer roch, wie Mr. Riley selbst, nach feierlicher Melancholie. Lucas sah regelrecht vor sich, wie Mr. Riley endlose Stunden an diesem Tisch
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