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Als würde ich fliegen

Als würde ich fliegen

Titel: Als würde ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Evans
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eine grüne Lederschachtel voller Briefe, die ihm Antoney geschrieben hatte.
    Riley hatte Antoney im Juni 1968 bei einem Pressetermin kennengelernt, nachdem er ihn schon oft hatte tanzen sehen. Kurz darauf machte er mit ihm ein Interview für Dancing Eye , und sie wurden gleichsam auf der Stelle zu Freunden. Noch bevor sie sich persönlich begegnet waren, hatte Riley geglaubt, Antoney schon zu kennen, schon in seine Seele geblickt zu haben, denn ein Tänzer, der gut ist, trägt sein Herz auf dem Körper. Sie waren eins, diese beiden. »Ich will damit sagen«, erklärte er Lucas, »dass wir zwar sehr unterschiedlich waren, uns aber vollkommen verstanden haben.« Antoney hegte einen besonderen Respekt für Riley, weil er als einziger Kritiker ein wirkliches Empfinden für seine Arbeit hatte. Der Erfolg der Compagnie war gleichsam über Nacht gekommen, und ihre Auftritte wurden überall besprochen, doch zu viele Journalisten legten zu viel Gewicht auf ihre Ethnizität, ihren »Exotismus«, auf ihre Schönheit und Lebendigkeit. Natürlich wollte Antoney etwas Schönes erschaffen, aber er wollte auch ernst genommen werden. Er wollte, so hatte er sich einmal geäußert, nicht als bunter Hund oder Einhorn gelten. Der Umzug nach England habe ihn übermäßig dafür sensibilisiert, wie sehr die Hautfarbe vom Wesentlichen ablenken könne. In Jamaika, als kleiner Junge, habe er eine viel deutlichere Sicht auf die Dinge gehabt. »Schwarz ist so viel mehr als schwarz«, sagte er immer. »Das Leben ist doch so viel mehr.«
    Er wurde zum »dunklen Adonis«. Die Frauenpresse fand besonders großen Gefallen an ihm. » Shango Storm ist eine stürmische Show!« – »Elektrisierend!«, schrieb She . Mehr noch: »Wann hat man so etwas Hinreißendes zuletzt auf einer britischen Tanzbühne gesehen?« Simone de Laperouse wurde wegen ihrer technischen Meisterschaft bewundert, Milly Afolabi wegen ihrer knisternden Energie, Ekow wegen seines Charmes – aber Antoney war eindeutig der Star. Im Kulturteil der Londoner Tagespresse, in den Untergrund-Magazinen der aufblühenden Schwulenszene erschienen kurze, locker-flockige Interviews. Ein Times -Kritiker erkor ihn zu Englands Alvin Ailey mit Karibik-Flair. Nicht alles, was geschrieben wurde, war grenzwertig, trotzdem hatte Riley es auf sich genommen, in Dancing Eye lange Besprechungen zu Antoneys Ehrenrettung zu verfassen, die sich auf das Handwerkliche und den Ausdruck der Compagnie konzentrierten, auf Antoneys frühe Meisterschaft als Choreograf. Schon damals hatte er es fast als eine Mission betrachtet – denn etwas Seltsames war geschehen, als er Antoney zum ersten Mal tanzen sah. Etwas, was ihm niemals zuvor geschehen war, bei keiner der hundert Aufführungen, die er besprochen hatte. Die Regel lautete, die Augen bleiben oben, der Stift bleibt unten. Das, was man sieht, was sich in einem Oberkörper ereignet, wie nuanciert Armhaltungen sind, Drehungen, das Hintergrundgeschehen, all das wird in einer Art sensorischem, unleserlichem Gekritzel niedergeschrieben, das man erst im Nachhinein entziffert. Man sieht nie nach unten. Solange der Vorhang oben ist, wird geschrieben. Als aber Antoney zum ersten Mal auf der Bühne des Ledbury Theatre als Shango erschien, in roter Weste und rotem Rock – nachdem Riley ihm nur wenige Minuten lang zugesehen hatte, hörte er zu schreiben auf. Sechs oder sieben Minuten lang. Er erklärte es Lucas mit einem Zögern. Der Wortfluss stockte. Jeder Kritiker braucht einen Engel, um ihn aufrecht zu halten, sagte er. Vielleicht war ihm ja seiner in jenem Moment erschienen.
    Riley hatte selbst einst zu den Schreiberlingen gehört. Er hatte in den Fünfzigerjahren als Nachrichtenreporter gearbeitet, doch ihm hatte die dafür nötige Forschheit gefehlt. Er stellte die falschen Fragen, und wenn er sie stellte, war es zu spät. Als Kind hatte ihn seine Mutter einmal im Monat mit in ein Theater im West End genommen (seine Großmutter war Ballerina, auf dem Dachboden ihres Hauses in Finchley lagen pastellfarbene Tutus und eine Volantkrinoline aus Satin). Er hatte auf den dunklen Samtbänken Feigen gegessen und zugesehen, wie die Schwäne mit ihren Ballettfüßen den See überquerten, wie der Nussknacker gegen das Heer des Mäusekönigs kämpfte, und irgendwann, besonders während der Duos, hatte sich das Gefühl in ihm eingenistet, dass irgendetwas fehlte, dass irgendetwas dazukommen musste, zusätzlich zu den Feigen. Das Gefühl war in die Fingerspitzen gewandert und

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