Also lieb ich ihn - Roman
unterschätzen, wie sehr Jungs das Gefühl genießen, gebraucht zu werden. Es klingt vielleicht schwachsinnig, aber wenn ein Mädchen sich auf einen verlässt und man den Erwartungen gerecht wird, dann fühlt man sich wie ein Superheld.«
Warum fühlt sich Hannah nur so niedergeschlagen, als sie das hört?
»Auf lange Sicht will wohl keiner mit einem Mädchen zusammen sein, das nicht selbst für sich einstehen kann«, sagt Henry. »Aber für eine Weile – ich weiß auch nicht. Es macht einfach Spaß. Die Tiefpunkte ziehen dich mächtig runter, dafür sind die Höhepunkte einfach nicht zu toppen.«
Hannah starrt weiterhin auf die Autos. Irgendwie hasst sie ihn.
Mit verhaltener Stimme sagt er: »Ich weiß, dass ich dich im Grunde erst seit heute kenne, aber du scheinst ganz schön auf Zack zu sein. Dich muss keiner retten.«
Ist Hannah deswegen so bedrückt, weil er nur zum Teil recht hat – natürlich will sie gerettet werden, doch offenbar liegt diese Rettung bei ihr selbst? Eigentlich hat sie von jeher gewusst, dass die Rettung allein bei ihr liegt. Vielleicht ist sie auch gerade deswegen bedrückt, weil dieses Wissen ihr das Leben keineswegs leichter macht, im Gegenteil.
|103| »Dir ist aber schon klar, dass das eine verdammt gute Sache ist, oder?«, sagt Henry. Nach einer Pause fährt er fort: »Glaub ja nicht, dass du nie heiraten wirst. Du bist genau die Art Mädchen, die ein Mann heiratet.«
Sie traut sich nicht, ihn anzusehen, sie traut sich nicht, überhaupt zu reagieren. Hannah ist verwirrt, weil er ihr ein Kompliment gemacht hat, das nur eine von zwei möglichen, aber einander widersprechenden Deutungen zulässt. Entweder hat er das aus Mitleid gesagt oder weil er sich zu ihr hingezogen fühlt. Entweder will er sie damit trösten oder etwas von sich preisgeben. Und sie sollte entweder leicht verärgert reagieren, angesichts seines gönnerhaften, brüderlichen Tons, oder verschämt – freudig, glücklich verschämt –, da er sich erklärt hat. Flehentlich denkt sie:
Sag noch was. Geh einen Schritt weiter. Mach, dass es alles ist, nur kein Mitleid.
Hannah sieht ihn von der Seite an, als ihre Blicke sich treffen, wirkt Henry ernst. Hätte er das aus Mitleid gesagt, müsste er doch lächeln, wie zum Ansporn. Sie sieht wieder auf den Straßenverkehr und sagt leise: »Mag sein.« Es scheint nicht ausgeschlossen, dass er sie in diesem Moment küssen oder ihre Hand ergreifen könnte, vielleicht hängt es nur davon ab, dass sich ihre Blicke ein weiteres Mal treffen. Sie verzögert den Blickkontakt eher, als dass sie ihn vermeidet, zumindest kommt es Hannah so vor, für die Dauer einer Minute, bevor er aufsteht, die Burrito-Folie zu einer Kugel zusammenknüllt und sie in einen metallenen Müllbehälter wirft. Auf einmal scheint es doch ausgeschlossen zu sein, dass er sie jemals küssen wollte.
Als sie wieder im Auto sitzen und sich der Straße nähern, in der sie Figs Aufenthaltsort vermuten, verfahren sie sich mehrmals. Hannah schlägt vor, auf die Hauptstraße zurückzukehren und nach dem Weg zu fragen. Doch dann sieht Henry die gesuchte Straße. Sie heißt |104| Tagger Point, eine nur geringfügige Abweichung von
Dagger Point
, wie Hannah es notiert hat; zu ihrer Entlastung könnte man anführen, dass ein Dolch, wie er sich in
Dagger
Point verbirgt, für Sir Walter Raleigh weitaus passender wäre.
»Immerhin existiert diese Straße«, sagt Hannah. »Wir sind also nicht umsonst gefahren.« Sie merkt, dass Henry mürrisch ist, weil sie sich verirrt haben. Das stört sie allerdings kaum, lenkt sie eher ab, stellt wieder eine gewisse Normalität her.
»Was wettest du, dass Fig gerade am Strand sitzt und sich einen Cocktail genehmigt?«, fragt Henry. »Und dass dieses Arschloch ihr dabei ein Sonett vorträgt?« Während er spricht, drosselt er das Tempo, sieht auf die Hausnummern. Als er schließlich in eine Auffahrt aus weißem Muschelbruch einbiegt, an deren Ende ein mittelgroßes, mit blauen Schindeln gedecktes Haus steht, verspürt Hannah Enttäuschung – Enttäuschung, weil die Zeit ihrer Zweisamkeit vorbei ist.
Mit erzwungener Heiterkeit sagt sie: »Glaubst du, sie kippen sich einen Jello-O-Shot nach dem anderen hinter die Binde?« Just in diesem Moment stürmt Fig aus dem Haus. Sie rennt um ihr Leben, in Jeans und einem schwarzen Baumwollpulli mit V-Ausschnitt. Über der rechten Schulter trägt sie eine große weiße Leinentasche mit hellrosa Bordüre. (Bildet Hannah sich bloß ein, dass ihre
Weitere Kostenlose Bücher