Also lieb ich ihn - Roman
beginnt der Teil ihres Lebens, in dem sie beide ein Paar werden. Im Ernst, wie kann man mit zwanzig Jahren so bodenlos naiv sein?
Als er den Motor abgestellt hat, sagt Henry zu Fig: »Ich muss mit dir reden.«
»Ich tanke solange«, sagt Hannah.
Die beiden entfernen sich, während Hannah den Stutzen in die Tanköffnung hält. Der Abend ist heiter, eine frische Frühlingsbrise kommt auf, der Himmel färbt sich an den Rändern leicht violett. Dieser Prof ist offensichtlich ein Ekel, aber Fig hat es einigermaßen heil überstanden, so dass Hannah wohl kein schlechtes Gewissen zu haben braucht, weil der Tag so schön war; es war ein herrlicher Tag.
Doch dann kommen die beiden nicht wieder – wo immer sie hingegangen sind. Als Hannah drinnen bezahlt, sind Fig und Henry inmitten der Chips- und Frostschutzmittelregale nirgendwo zu sehen. Unmittelbar bevor Henry in die Tankstelle einbog, hatte sich Hannah noch vorgestellt, wie sie mit Fig auf der Damentoilette am Waschbecken steht und ihrer Cousine das Gesicht mit einem feuchten |108| Papiertuch abtupft – ein bisschen wie Florence Nightingale –, während Henry sich draußen aufhält. (Vielleicht beim Reifenaufpumpen? Jedenfalls ein typisch männliches Handeln im Hintergrund.) Auf der Damentoilette ist aber niemand, niemand geht bei der Herrentoilette rein oder raus. Vermutlich ahnt Hanna es da schon, aber nur ganz leise. Sie kauft eine Flasche Wasser und geht wieder raus. Auf dem Parkplatz ruft sie: »Fig?«, kommt sich dann albern vor. Sie umrundet das kleine Ladengebäude, und siehe da, so schwer sind die beiden gar nicht zu finden: Fig lehnt mit dem Rücken an der Ladenhinterseite, Henry kniet vor ihr, umschlingt ihre Taille und drückt sein Gesicht gegen ihren nackten Bauch. Sie streicht ihm über den Kopf. Auch wenn Figs Pulli hochgerutscht ist, sind beide völlig bekleidet; ein Glück. Der Anblick ist zwar verheerend – diese Zärtlichkeit ist fast schwerer zu ertragen als eine heiße Sexszene –, aber nicht schockierend. Im Augenblick selbst ist Hannah nicht schockiert, und später, als sie einen Freund hat, wird sie nachvollziehen können, dass diese Situation sich ganz zwangsläufig ergeben hat. Die erst vor Kurzem erfolgte Trennung, Figs Verletzung, der fast schmerzlich schöne Frühlingsabend – wie hätten sie sich denn nicht in die Arme fallen sollen? Ohnehin ist bei einem Paar, selbst bei einem zerstrittenen Paar, kein echtes, vollständiges Wiedersehen ohne Umarmung denkbar. Selbst wenn man sich bloß zum Abendessen im Restaurant trifft – ohne Umarmung oder Kuss gibt es gar keine richtige Beziehung, denkt Hannah. Es bedeutet also nur, dass Fig und Henry in ihre Rollenmuster zurückgefallen sind. Es geht ihnen nicht darum, Hannah eins auszuwischen. Zumindest geht es Henry nicht darum, und auch in Figs Fall ist Hannah geneigt, das zu glauben, bis Fig den Kopf in Hannahs Richtung dreht und mit geschlossenen Lippen unmerklich lächelt. Hannah zieht sich sofort zurück.
|109| Mit verschränkten Armen lehnt sie am Auto; sie heckt einen Plan aus. Sie wird einen Jungen küssen. Oder besser gleich mehrere. Sie wird andere Jungen küssen, damit sie eines Tages – gewiss nicht heute und wohl auch nicht in absehbarer Zeit – bereit ist, wenn Henry sie küssen will. Er gibt ihr ein Ziel vor, das sie erreichen will. Sie ist nicht traurig. Sie denkt an Jared aus dem Soziologie-Seminar, daran, wie sehr sie diese Geschichte mit dem Hustensaft mitgenommen hat und wie wenig sie über ihn weiß. Sie weiß ja nicht einmal, ob er heterosexuell ist. Und jetzt kann sie sich höchstens noch vorstellen, dass er sie nervös macht – im besten Fall angenehm nervös, im schlimmsten einfach nur nervös. Aber sie kann sich nicht vorstellen, ihn zu küssen. Sie fühlt sich bestimmt nicht zu ihm hingezogen. Es ist eher, als hätte sie mit ihm gespielt. Er hat ihr Stoff geliefert, zum Nachdenken und auch, um mit Dr. Lewin über anderes zu sprechen als nur über ihre Eltern.
Mit Henry könnte Hannah aber in einem Bett schlafen. Sie könnte morgens mit ihm Müsli essen oder abends in einer Bar Bier trinken. Auch langweilige Dinge – sie könnte mit ihm einen Regenschirm kaufen gehen oder im Auto warten, während er zum Postschalter geht. Sie könnte ihn ihrer Mutter und ihrer Schwester vorstellen. Es ist gar keine romantisch glitzernde Vision; es ist einfach so, dass es keine Situation gibt, die sie sich nicht mit ihm vorstellen kann. Nichts, was sie ihm nicht gern erzählen
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