Alta moda
nun an werde ich Kaffee immer mit Andacht trinken, aber wohl nie mehr mit der gleichen Dankbarkeit wie in diesen Tagen.
Zu den wenigen Sonderrechten, die ich mir vom Holzfäller erbeten und für ›gute Führung‹ erhalten hatte, gehörte die morgendliche Benutzung der Bettpfanne im Freien; dann Wäsche zum Wechseln – eine Tasche voll billigem Baumwollunterzeug – und ein Trainingsanzug; ferner hatte ich jetzt, statt meiner Stiefel, die viel zu warm gewesen wären, ein Paar Plastikschlappen. Die Unterwäsche nahm der Holzfäller manchmal mit und brachte sie gewaschen wieder. Ob das seine Frau besorgte? Ich versuchte mir vorzustellen, was sie wußte, wie sie darüber dachte. Aus so einer Organisation könne man nicht aussteigen, hatte der Holzfäller gesagt. Vielleicht dachte die Frau überhaupt nicht, stellte keine Fragen, sondern hatte einfach Angst und tat, was man von ihr verlangte.
Mein Tagesablauf richtete sich nach Anfang und Ende ihrer Schichten respektive den Mahlzeiten. Die Intervalle dazwischen teilte ich nach den Gedankenspaziergängen ein, die zu meinen Kindern führten, zu meiner Arbeit, meinem Geliebten, meinen Eltern, in die Vergangenheit. Auch zu Freunden. Ich machte mir mit der Zeit einen richtigen Stundenplan, in dem alles seinen festen Platz hatte. Wissen Sie, wenn man in der Fremde lebt, dann werden Freunde mit der Zeit so wichtig wie ehemals die Familie. Ich lernte, daß ich diese Einkehrstunden sorgsam planen und zum Beispiel vor dem Schlafengehen alle demoralisierenden Gedankenausflüge meiden mußte. Denn Traurigkeit ist ein fataler Wegbegleiter für einsame Nächte. Nicht, daß er mich wachgehalten hätte – der monotone Tagesablauf sorgte im Gegenteil dafür, daß ich nicht wie sonst an Schlaflosigkeit litt –, aber er konnte mich mit bösen Träumen, sogar mit Alpträumen, quälen.
Nach jeder Mahlzeit stellte ich das Tablett zu Boden, zog mich, meine Kette nachschleppend, ins Zelt zurück und begab mich auf Gedankenreise. Ein bißchen betrachte ich diese – obschon erzwungene – Einkehrund Besinnungsphase sogar als Privileg, auch wenn das sicher niemand glauben wird. Und darum beneiden wird man mich schon gar nicht, oder? Aber ich werde es wohl ohnehin niemandem außer Ihnen erzählen.
Bei Ihnen, Maresciallo, ist das etwas anderes, da habe ich das Bedürfnis, mich auszusprechen, als ob wir hier am Scheideweg stünden, an der Schwelle zwischen zwei Welten, und Sie wären der Grenzhüter, der einzige, der beide kennt und versteht. Von denen da draußen versteht bestimmt keiner, wo ich gewesen bin. Für sie war ich einfach fort, verschollen. Und sobald ich wieder in meiner eigenen Welt angekommen bin, werde ich wohl nie mehr ungehemmt über das Erlebte sprechen können.
Der Maresciallo, der über dieses Syndrom gut Bescheid wußte, hörte schweigend zu und prägte sich alles Wichtige ein, denn er wagte nicht, sein Notizbuch zu zücken.
»Mein Vater starb, als ich noch ein Kind war, und meine Mutter schien seinen Tod relativ gut zu verkraften. Man hatte den Eindruck, sie lebe ganz normal weiter, aber das war bloß Fassade. Ich fühlte mich daheim so unwohl, daß ich bald gar nicht mehr nach Hause gehen mochte und soviel Zeit wie möglich bei meinen Freunden verbrachte. Mit meinen dreizehn Jahren begriff ich nicht, was los war, bis sie zu einer Entziehungskur in eine Klinik eingeliefert wurde. Ich weiß noch, wie meine Tante in der Waschküche auf Berge von Flaschen stieß. Ich glaube, sie war es auch, die – entweder bei der Gelegenheit oder irgendwann später – zu mir sagte: ›Von jetzt an wirst du lernen müssen, auf eigenen Füßen zu stehen, merk dir das. Das Leben ist hart, und du bist nun auf dich allein gestellt. Keiner wird dir helfen.‹ Ich kam für ein paar Jahre ins Internat, verbrachte die Ferien reihum bei Verwandten und ging dann – gegen den Willen meiner Tante – aufs College.
›Keiner wird dir helfen.‹ Können Sie sich vorstellen, daß dieser grausame Satz mein ganzes Leben bestimmt hat? Wie konnte sie zu einem völlig wehrlosen Kind so unbarmherzig sein, und was hat sie bloß damit gemeint?
Warum sollte einer Dreizehnjährigen, die praktisch verwaist war, niemand helfen können? Aber ich glaubte ihr, und von da an war das Leben für mich ein Kampf, den ich allein ausfechten mußte. Ich wurde hart im Nehmen, oder zumindest gelang es mir, den Eindruck zu erwecken, aber bevor man mich entführte, war ich innerlich so ausgebrannt, daß ich nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher