Alta moda
lange durchgehalten hätte. Nachts verursachten die jahrelang aufgestauten Ängste mir Schweißausbrüche, tagsüber zermarterte ich mir den Kopf nach einem Ausweg: Sollte ich den Beruf aufgeben, vor dem Streß kapitulieren und Leo die Verantwortung für die Firma übertragen? Sollte ich Patrick heiraten, diesen gütigen Menschen, der sich in mich hineinzuversetzen und mir zu helfen versuchte? ›Keiner wird dir helfen.‹ Das war die Maxime, die mein Leben diktierte. Patrick war für mich da, wenn ich nicht mehr ein noch aus wußte; und wenn ich vor lauter Sorge und Erschöpfung in Tränen ausbrach, dann bettete er meinen Kopf an seine Brust und sagte: ›Nun hör doch bloß, wie es hämmert, dein armes kleines Herz. Gönn ihm eine Pause. Leg die Waffen nieder, ich bin ja da.‹ Und es ging, bei ihm konnte ich mich ausruhen. Aber am nächsten Tag griff ich wieder zu den Waffen. Macht der Gewohnheit, verstehen Sie? Und bis auf Patrick, der mein Spiel durchschaut hatte, glaubten alle, ich sei unbesiegbar, knallhart. ›Olivia wird das schon irgendwie hinkriegen. Olivia weiß immer einen Rat. Olivia ist eine Kämpfernatur.‹ Mich für andere stark zu machen, das war mein einziges Mittel, mit dem Waisensyndrom fertigzuwerden. Als mein Mann starb, übernahm ich bei den Kindern die Vaterrolle. Auch wenn sie keinen leiblichen Vater mehr hatten, sollten sie niemals diesen schrecklichen Satz hören müssen: ›Keiner wird dir helfen.‹ Erst meine einsamen Gedankenausflüge machten mir bewußt, daß sonderbarerweise der einzige Mensch, dem ich je gestattete, auch einmal etwas für mich zu tun, mein Sohn Leo war. Vielleicht, weil ich mich in ihm wiedererkannte oder weil er der erste war, von dem ich mit Bestimmtheit wußte, er hat eine Mutter, die ihn über alles liebt, um ihn brauche ich mich nicht zu ängstigen. Mit Leo begannen meine Nachtgedanken – dann kamen Patrick, mein Vater, der Schlaf. Es war so beglückend, in Leos Kindheit zurückzutauchen! Wie hatte ich den feierlich ernsten, konzentrierten Ausdruck geliebt, den sein Gesichtchen annahm, wenn ich ihn stillte. Und mit welcher Hingabe er schon als kleines Kind seinen Neigungen folgte! Mit drei Jahren zeichnete er unermüdlich krakelige Insekten: Größere Modelle passend zum Format seines Zeichenblocks zu verkleinern, das hatte er noch nicht heraus. Mit sieben aquarellierte er dann von unserer Loggia aus die Adelspaläste und die Alleebäume unten auf der Piazza, über der im Abendrot Schwalben und Fledermäuse kreisten – oft malte er zwei, drei Stunden ohne Unterbrechung und hörte auch dann nur auf, weil ihm das Licht nicht mehr reichte.
Er war fünfzehn, als er die ersten Migräneanfälle bekam, qualvolle Schmerzen, die sich im ganzen Haus breitmachten und so bleischwer auf allen Räumen lasteten, daß es mir den Atem benahm. Natürlich wollte ich irgendwie helfen, ihm Linderung verschaffen, aber er flüsterte nur mit schwacher Stimme, ich solle alles verdunkeln und ihn allein lassen. Damit ja kein Lichtstrahl zu ihm hineindrang, saß auch ich im Dunkeln vor seiner angelehnten Tür und litt ohnmächtig mit ihm. Für Caterina war das jedesmal furchtbar schwer, denn sie fühlte sich vernachlässigt und begriff mit ihren zehn Jahren noch nicht, daß ihr Bruder nicht reglos wie ein Toter dalag, weil er schlief, sondern weil selbst die kleinste Bewegung ihm wahnsinnige Schmerzen verursachte. Die Anfälle kamen und gingen völlig willkürlich, und er sprach hinterher nie darüber.
Er war dem Wesen nach ein ganz stiller, in sich gekehrter Junge, aber manchmal, da konnte er förmlich übersprudeln vor Einfällen und phantastischen Ideen, und dann war es, als bräche eine lang aufgestaute Munterkeit sich gewaltsam Bahn. Er hatte ein erstaunliches Nachahmungstalent, etwa wenn er seine Lehrer im Liceo Artistico imitierte, besonders die einheimischen Kunsthandwerker, die den Schülern das Modellieren beibrachten, grafische Techniken und so weiter, und deren lautstarken Florentiner Dialekt und beißenden Witz er bravourös kopierte. Das Erstaunlichste daran war wohl der Kontrast zu seiner sonstigen Schweigsamkeit. Nein, wie er mich zum Lachen bringen konnte!
Sie müssen mich für verrückt halten, für psychisch gestört durch dieses furchtbare Erlebnis. Bestimmt denken Sie das, auch wenn Sie sich nichts anmerken lassen. Wie sonst könnte ich Ihnen lächelnd und gefaßt die größten Schrecknisse meiner Gefangenschaft schildern, und jetzt, wo es um glückliche
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