Alta moda
denn ihre beste Freundin?«
»Weiß ich nicht. Sie hatte früher viele Freunde, aber ich hab ihr immer gesagt, daß sie sich nicht genug um sie kümmert, weil sie so ganz in ihrer Arbeit aufgeht. Sie wurde ständig eingeladen – mal zum Essen, mal zu Ausflügen –, aber sie ist nie besonders gesellig gewesen. Ihr Leben spielte sich praktisch nur zwischen ihrem Büro und dem Atelier unten ab. Ich habe immer befürchtet, daß sie sich mit dieser Schufterei die Gesundheit ruiniert. Aber an wen unter ihren Freunden sie sich wenden würde – keine Ahnung. Und was, wenn der Empfänger den Brief nicht mir bringt, sondern Leonardo? Dann wissen wir wieder nicht, was vorgeht.«
»Immer eins nach dem anderen, Signorina. Bis dahin gelingt es mir hoffentlich, Ihren Bruder umzustimmen. Aber in der Zwischenzeit – das heißt, sobald es Ihrem Bruder bessergeht – sollten Sie beide gemeinsam sich drei Fragen überlegen, die niemand außer Ihrer Mutter beantworten kann. Ich bin sicher, Sie verstehen, wie wichtig das ist: Wir müssen uns vergewissern, daß Ihre Mutter noch lebt.«
»Sie könnte schon tot sein, nicht wahr? Das wollen Sie doch damit sagen?«
»Nein, quälen Sie sich nicht mit solchen Gedanken.
Das wäre sehr unwahrscheinlich. Die Entführer wissen, daß man ihnen einen entsprechenden Beweis abverlangen wird, also ist es in ihrem eigenen Interesse, Ihre Mutter vorerst am Leben und gesund zu erhalten.«
Um sie von den düsteren Gedanken an das Schicksal ihrer Mutter abzulenken, sagte er: »Das ist ein sehr schönes Foto von Ihnen, das da drüben an der Wand. Sind überhaupt alles sehr hübsche Bilder. Und Sie werden sehen, es dauert nicht lange, da können Sie wieder genauso fröhlich lachen wie auf diesen Fotos. Sind Sie das auch, das Mädchen auf dem Pferd?«
»Ja. Aber ich habe das Reiten aufgegeben. Meine liebste Aufnahme ist die dort im Ballettkostüm. Die ist vom letzten Jahr. Leider nimmt mein Studium mich jetzt so in Anspruch, daß ich aufs Tanzen verzichten mußte.«
»Wirklich ein eindrucksvolles Porträt. Und, wie ich sehe, sogar signiert.«
»Vom Fotografen, ja. Gianni Taccola hat sich in Florenz einen Namen gemacht. Eine Serie mit Aufnahmen von mir hat er sogar in einer kleinen Ausstellung gezeigt, und das Bild da, das hat er mir geschenkt. Er hat es übrigens mit dem gleichen Wort beschrieben wie Sie: eindrucksvoll – und er meinte, es sei ein Glück, daß ich nicht die gleichen Ambitionen hätte wie Olivia, denn keine Modelagentur würde mich nehmen, weil die Leute nur auf mich schauen würden, statt auf die Kleider. Ein Mannequin muß zwar auch attraktiv sein, aber in erster Linie sind auf dem Laufsteg doch wandelnde Kleiderständer gefragt. Olivia zuliebe habe ich schon auch ein wenig als Mannequin gearbeitet, aber Spaß hat es mir keinen gemacht… Ach, es ist so furchtbar! Wir werden nie ohne sie zurechtkommen!«
»Na, na, na, das brauchen Sie auch gar nicht. Wir werden Ihnen Ihre Mutter heil wieder nach Hause bringen. Wenn Sie nur versuchen, ruhig zu bleiben. Sie haben sich bis jetzt so tapfer gehalten, und bald werden wir Ihre Hilfe brauchen.« Sein Ablenkungsmanöver war ja schön danebengegangen! »Und wenn Sie mir jetzt noch ein Kleidungsstück von Ihrer Mutter heraussuchen könnten? Möglichst etwas, das getragen, aber noch nicht gewaschen wurde. Wollen Sie das für mich tun, ja?«
»Aber natürlich.« Sie stand auf, trat ans Bett und drückte auf eine Klingel am Kopfende. Gleich darauf klopfte es, und das philippinische Hausmädchen trat ein.
»Ja, Signorina?« stammelte sie unter lautem Schniefen.
Ihre Wangen waren noch ganz naß, und sie machte keine Anstalten, ihre Tränen zurückzuhalten.
»Führen Sie den Maresciallo ins Zimmer meiner Mutter und geben Sie ihm, was er verlangt.«
Der Maresciallo runzelte die Stirn. »Ich denke, Sie kommen besser mit.«
»Aber ich möchte lieber nach Leo sehen.«
»Ach ja, natürlich…«
Ihm blieb nichts weiter übrig, als dem weinenden Hausmädchen zu folgen. Am Ende eines in dunklem Rot gehaltenen, frisch gebohnerten Korridors gelangten sie über zwei graue Steinstufen zum Zimmer der Contessa, einem Raum, so licht und luftig, wie der Maresciallo ihn sich vorgestellt hatte. Auch hier gab es Fotos, eine Wand verschwand fast unter silbergerahmten Aufnahmen, und auf allen waren Leonardo und Caterina zu sehen. Ein Kinderbild, auf dem die Geschwister gemeinsam posierten, gefiel dem Maresciallo ganz besonders: Noch nie hatte er so
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