Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)
will ich sagen.« Lovely machte eine leichte Kreisbewegung über der Ikone. » Wir sehen den See, die Felsen, den Wasserfall wie von oben, aus der Vogelperspektive. Doch die Jungfrau sehen wir von vorn, sie stimmt perspektivisch nicht mit dem Rest überein. Es ist, als hätte der Künstler eine Karte von einem Ort gemalt, den er kannte, seine Heimat vielleicht, und die Madonna dann obendrauf gesetzt.«
» Hast du das gehört, Schatz?«, sagte Zoe und drehte sich zu Ry um. » Er glaubt, der See in meiner Ikone könnte real existieren. Wäre es nicht cool, hinzufahren und ihn sich anzusehen?«
Ry zuckte mit den Achseln. » Wenn du meinst.«
Zoe wandte sich wieder an den Antiquitätenhändler und lächelte ihn strahlend an. » Wissen Sie, wo in Russland das sein könnte, Mr. Lovely?«
Lovely lächelte ebenfalls. » Wenn der Künstler den Ort dargestellt hat, an dem er lebte, dann ist es irgendwo in Sibirien. Man erkennt das an der Farbe, die er benutzt hat. Die Farben im Gewand der Madonna, zum Beispiel orange, zinnoberrot und türkis, sind eindeutig sibirisch. Und mit einer sicheren Hand aufgetragen, wie ich es besser kaum je gesehen habe. Tatsächlich hätten solche Farben in der Hand eines geringeren Künstlers leicht diese primitive Grellheit annehmen können, wie wir sie in der Volkskunst sehen.«
Zoes Herz schlug so heftig, dass sie kaum stillhalten konnte. Die Ikone war eine Karte zu einem realen Ort, einem See irgendwo in Sibirien. Wenn sie den See fanden, konnten sie dann auch den Knochenaltar finden?
» Die Farben sind wirklich wunderschön«, sagte sie. » Und noch so frisch, obwohl sie vor so langer Zeit gemalt wurden.«
» Es ist alles ganz wunderbar, nicht? Die erstaunliche Frische verdankt sich einer Technik namens Enkaustik, bei der die Pigmente in heißem Wachs gebunden werden und die zu großer Haltbarkeit führt. Es ist nebenbei bemerkt auch eine Technik, die uns hilft, dieses Werk auf etwa die Zeit Iwans des Schrecklichen zu datieren. Also auf das 16. Jahrhundert.«
Lovely betrachtete die Ikone voller Verehrung und seufzte. » Die Silberauflage auf dem Pokal und das Blattgold der Krone wurden ein paar Jahrhunderte später hinzugefügt. Was sehr schade ist, denn es verdirbt die Reinheit des Stücks.«
» Aber was ist mit den Edelsteinen darauf?«, frage Ry. » Die müssen doch einiges wert sein, oder?«
» Ach ja, die Edelsteine.« Lovely holte eine Juwelierlupe aus seiner Anzugtasche, setzte sie ans Auge und ging mit dem Gesicht so nahe an die Ikone, dass seine Nasenspitze fast die der Madonna berührte. » Ich sehe, wir haben einen Diamanten, Onyx, Iolith…«, sagte er und wanderte mit der Lupe von einem zum anderen. » Feueropal, Aquamarin, Saphir…« Er endete mit dem größten Stein, der in die Stirn des silbernen Totenkopfpokals eingelassen war. » Rubin.«
Er richtete sich auf und steckte die Lupe wieder weg. » Bedauernswerterweise sind sie alle überaus modern, aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, würde ich sagen, und von minderer Qualität und schlechtem Schliff. Die Originalsteine wurden wahrscheinlich von jemandem entfernt, der das Geld brauchte.«
Meine Urgroßmutter, dachte Zoe. Lena Orlowa. Hatte sie die Steine verkauft, um sich und ihr Baby während der japanischen Besatzungszeit in Schanghai über die Runden zu bringen? Anna Larina hatte gesagt, Lena habe nach dem Krieg einen Juwelenhändler geheiratet. Diese späteren Edelsteine stammten wahrscheinlich von ihm.
Aber was Zoe immer höchst merkwürdig vorgekommen war an den Steinen, war ihre wahllose Verteilung auf der Ikone. Nicht nur ähnelten sich keine zwei von ihnen, es sah auch aus, als wären sie aufs Geratewohl hingestreut worden, ohne einen Gedanken an künstlerische Gestaltung oder Symmetrie.
Die goldene Krone der Madonna zum Beispiel– warum waren in ihr keine Steine? Im Himmel auf der anderen Seite der Krone jedoch schwebten ein Feueropal und ein Aquamarin zwischen den Wolken. Anders als man erwarten würde, trugen auch die Gewänder der Jungfrau keine Steine, aber der Iolith steckte mitten in dem Felsenhaufen und der Saphir im Wasserfall.
Es ergab keinen Sinn. Der einzige Stein, der dort zu sein schien, wo er hingehörte, war der große Rubin in der Mitte des Schädels.
» Was wollen Sie uns also sagen?«, fragte Ry, ließ die Schultern noch mehr hängen und lümmelte sich mit den Ellbogen auf die makellose Glasfläche des Ladentischs. » Ist die Ikone etwas wert oder nicht?«
Lovely warf einen
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