Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)
fünfzig Punkte seines IQ eingebüßt. Und auch wenn er sich nicht kleiner oder weniger muskulös machen konnte, sah er derart an den Ladentisch gelümmelt und mit hängenden Schultern nicht mehr annähernd so hart und bedrohlich aus.
Anthony Lovely räusperte sich. » Sagen Sie, Mrs.…?«
Zoe riss sich von Rys faszinierendem Anblick los und wandte sich wieder dem Antiquitätenhändler zu. » Äh, Suzie Carpenter, mit einem Z. Mein Mann heißt Jake Carpenter. Wir sind frisch verheiratet.«
» Ja, das sagten Sie schon. Darf ich fragen, wie viel Sie über Ikonen wissen?«
» Nur dass es eben diese religiösen Dinger sind«, sagte Zoe und hoffte, ahnungslos genug zu klingen. » Aber jetzt, da ich eine habe, möchte ich mehr wissen.«
Anthony Lovely schob seinen Kaffee und die gefaltete Zeitung ein Stück zur Seite und griff nach einer grünen Lampe mit biegsamem Hals, die neben der Registrierkasse stand.
» Wegen der Verehrung, die sie in der orthodoxen Kirche erfuhren«, sagte er, » mussten russische Ikonen strenge formale Regeln einhalten, mit festen Mustern, die sich ständig wiederholten. Es hatte schwerwiegende Konsequenzen, wenn ein Künstler es wagte, von der Norm abzuweichen. Mit einer Drahtgeißel zu Tode gepeitscht zu werden, zum Beispiel.«
Zoe schauderte. » Das ist ja furchtbar.«
» In der Tat.« Lovely stellte die Lampe auf den Ladentisch. » Und genau das macht Ihre Ikone so besonders– weil der Gegenstand komplett sämtliche Regeln verletzt, verstehen Sie?«
Er griff unter die Theke und holte eine Schachtel dünne Kunststoffhandschuhe hervor, damit kein Fett von seiner Haut auf die Ikone geriet. Dann nahm er ein schwarzes Samttuch aus einer Schublade, glättete es und legte die Ikone voller Ehrerbietung darauf.
Zoe bekam Gewissensbisse wegen der unsanften Art, wie sie und Ry die ganze Zeit mit ihr umgegangen waren. Sie war sogar in die Seine damit gesprungen.
» Normalerweise«, sagte Lovely, beugte sich vor und schob seine Zweistärkenbrille nach oben, nach unten und wieder hinauf, » ist die Heilige Jungfrau so dargestellt, dass sie das Kind in den Armen hält oder die Hände zum Gebet gefaltet hat. Hier sehen wir stattdessen ein ziemlich makabres Trinkgefäß in Form eines menschlichen Schädels in ihrer Hand.«
» Es sieht irgendwie unheimlich aus«, sagte Zoe und schauderte erneut. » Glauben Sie, es hat eine besondere Bedeutung?«
» Für den Künstler vielleicht. Die Kirche hingegen wäre vermutlich über die bloße Idee entsetzt gewesen.«
Lovely verlor sich für einen Moment in Gedanken, und er betrachtete die Ikone fast, als würde er sie anbeten. Er liebt das alles, dachte Zoe. Nicht nur die Ikonen, er liebt Russland selbst, seine Geschichte, seine tiefen und dunklen Geheimnisse. Er liebt es mit ganzer Seele.
Er lachte auf. » Jawohl, sie wäre wahrhaftig entsetzt gewesen. Und wahrscheinlich hätte man die Madonna selbst ebenfalls schief angesehen, denn sie ist nicht die typische flachgesichtige Heilige, die einem diktierten Ideal gehorcht. Vielmehr hat sie etwas Schalkhaftes, Launisches an sich, finden Sie nicht? Als hätte sie ein Geheimnis, mit dem sie uns neckt, nur dass sie es uns nie verraten wird. Ich muss annehmen, dass der Künstler eine reale Person als Modell benutzt hat. Ihr herzförmiges Gesicht und die vorstehenden Wangenknochen, die stark gewölbten Brauen. Und ihre Augen, sie sind beinahe katzenhaft…«
Er unterbrach sich, sah Zoe an und blickte dann wieder zu der Ikone. » Wie höchst ungewöhnlich. Die Jungfrau, sie ist… Sie beide ähneln sich so sehr, dass Sie Schwestern sein könnten.«
Langsam hob er den Blick wieder und sah Zoe jetzt misstrauisch an. » Wie lange, sagten Sie, ist die Ikone schon in Ihrer Familie?«
Zoe traute sich nicht, Ry anzusehen. » Oh, sehr lange«, sagte sie, und ihre Stimme klang heiser. » Großmutter hat es eigentlich nie so genau gesagt.«
Lovely musterte sie noch einige endlose Augenblicke, dann sagte er: » Ich frage mich nur, ob es reiner Zufall ist, dass Sie ihr so sehr ähneln. Oder glauben Sie möglicherweise, dass sie eine reale Person von einem realen Ort war?«
Ein realer Ort. Zoe sah auf die Jungfrau. Sie saß auf einem goldenen Thron, und der Thron schwamm über einen See, der in etwa wie ein Schuh geformt war. Am Absatz des Schuhs war etwas, das wie aufgetürmte Felsen aussah. Und an der Zehe war ein Wasserfall.
» Wollen Sie damit sagen, Sie glauben, dass dieser See irgendwo existiert?«
» Genau das
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