Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)
mussten in den Nickelminen schuften, aber ihn hatten sie stattdessen zum » Lagerkünstler« gemacht und ließen ihn Parolen und rote Sterne auf die Wand des Krankenreviers malen. Und in dem Krankenrevier arbeitete praktischerweise sie, und er hatte dieses hinreißend gute Aussehen, das jeder Frau auffiel.
Aber es war sein trotziger Mut gewesen, mit dem er ihr Herz gewonnen hatte. Er hatte ihr erzählt, er sei in den Gulag geschickt worden, weil er kritische Karikaturen über Stalin und die Kommunistische Partei gezeichnet hatte. » Sie sind Parasiten. Sie nähren sich von den Früchten unserer Arbeit und erzählen uns dabei die ganze Zeit, wie wir denken, wie wir sein sollen. Ich weigere mich, ein glücklicher Sklave zu sein, Lena. Es gibt noch eine andere Welt für dich und mich. Für uns. Eine Welt grenzenloser Möglichkeiten.«
Er hatte es aussehen lassen, als sei die Flucht ihre Idee gewesen, aber sie verstand jetzt, wie mühelos er sie manipuliert hatte, indem er ihr von der Lücke im Zaun erzählte, von den fünfundvierzig Sekunden ohne Suchscheinwerfer, während die Wachen wechselten. Und die Höhle… Aber gibt es einen Ort, Lena, Liebste, wo wir uns verstecken können, bis die Soldaten es aufgeben, nach uns zu suchen? Wie eifrig, wie einfältig sie ihm von der Höhle erzählt hatte und dass sie so raffiniert hinter einem Wasserfall an dem See versteckt lag, an dem sie zur Welt gekommen war.
Was für eine wahrhaft leichtgläubige kleine Närrin du doch warst, Lena Orlowa.
Er hatte natürlich schon von der Höhle gewusst– vielleicht nicht, wo sie lag, aber von ihrer Existenz, und dass sie allein von allen dummen Frauen in dieser Welt ihn zu ihr führen konnte. Sie war so dumm gewesen. Dumm vor Liebe.
Und Nikolai? Hatte er sie je geliebt, nur ein bisschen?
Wahrscheinlich nicht. Und nein, er war nie ein echter Gefangener gewesen. Er war sicherlich von der Staatssicherheit. Der Geheimpolizei. Einer von Stalins Spitzeln. Er hatte halb deliriert vor Fieber und wahrscheinlich mehr gesagt, als er sollte. Er hatte etwas von einem Dossier erwähnt. Das Fontanka-Dossier hatte er es genannt. Vor der Revolution war Fontanka 16 die berüchtigte Adresse des Hauptquartiers der zaristischen Geheimpolizei gewesen. Wie weit zurück ging das Dossier also, und was stand drin? Wer stand drin? Eine Zeichnung des Altars, hatte Nikki gesagt. Eine wilde Geschichte, von einem betrunkenen Verrückten in einer Schenke erzählt. Aber was noch? Wie viel wusste er?
Irgendwie hatte er von dem Knochenaltar erfahren. Er und die Männer, für die er arbeitete, würden jetzt nie mehr ruhen, bis sie dessen schreckliche Macht in die Hände bekamen.
» Ich habe dich geliebt, Nikki. So sehr«, sagte sie, aber er schlief weiter.
Wieder streckte sie die Hand aus, um ihn zu berühren, und wieder hielt sie inne. Einmal hatten sie sich in dem Schuppen geliebt, wo die Farben lagerten. Danach hatte er gesagt: » Glaubst, das kann für alle Zeit dauern, Lena?«
Sie hatte ihm nicht zu viel zu früh geben wollen, deshalb hatte sie zurückgefragt: » Glaubst du es?«
» Ja. Und ich meine nicht das hier«, hatte er gesagt und sie zwischen den Beinen berührt. » Sondern das…« Seine Hand war zu der weichen Haut direkt unter ihrer Brust gewandert. » Das Blut, das ich durch dein Herz pulsieren fühle. Und das.« Er hatte ihre Hand genommen und auf seine Brust gelegt. » Das Lebensblut meines eigenen Herzens. Kannst du mein Herz ewig für dich schlagen lassen, Lena? Kannst du unsere Herzen bis ans Ende der Zeit wie eins schlagen lassen?«
3
Lena Orlowa saß vor der erlöschenden Glut des Feuers und sah, wie der Mann, der sich Nikolai Popow nannte, die Augen öffnete. Sein Fieber war gebrochen, er würde überleben. Sein schwarzes, verräterisches Herz würde weiterschlagen, wenn vielleicht auch nicht für immer, so doch für den Augenblick.
Er lächelte sie an, und dann kam der Moment des vollen Bewusstseins, denn sein Blick ging von ihr direkt zum Knochenaltar, und sie sah die Gier und den Hunger in seinen Augen auflodern, ehe sie wegschaute.
Er gähnte ausgiebig und streckte sich. » Himmel, ich fühle mich viel besser. Als könnte ich es doch überleben. Aber nie wieder verpasse ich mir eine Überdosis Kochsalz, das verspreche ich dir.«
Seinem Verhalten nach, wie er immer noch die Rolle des entflohenen Sträflings und ihres Liebhabers spielte, erinnerte er sich offenbar nicht daran, dass er sich in seinem Delirium selbst verraten hatte.
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