Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
und sagte, die Oberfeldgasse wäre nicht halb so schön ohne Augusts Lächeln. Das freute mich, weil mir die weitgehende Unversehrtheit seines Charakters damals nicht bewusst war. Damals glaubte ich, die Krankheit habe seine Persönlichkeit schon stark angegriffen.
Am Abend kamen Helga und Werner. Wir aßen Kuchen und tranken Wein. Werner und ich schauten uns ein Halbfinale der Fußball-WM an. Auch der Vater saß bei uns, aber das Spiel – zwischen Deutschland und Italien – vermochte ihn nicht zu beeindrucken, zu sehr lebte es von der taktischen Spannung und zu wenig von offensichtlichen Höhepunkten. Wiederholt fragte der Vater:
»Wer spielt da überhaupt? Wolfurt gegen?«
»Kennelbach«, sagte ich mehrmals.
Der Vater nickte, als hätte er auch selber darauf kommen können, und sagte verdrossen:
»So spielen die auch!«
Als Fabio Grosso das 1:0 schoss, sagte der Vater:
»Moment einmal, das ist aber kein Wolfurter.«
Werner und ich lachten uns krumm. Und tatsächlich waren diese Momente für uns die Höhepunkte des Spiels. Das Spiel selber hätten wir längst vergessen.
Sein fünfzigster Geburtstag ist mir ebenfalls gut in Erinnerung. Damals war ich acht. Werner und ich teilten uns ein Zimmer, und von einem der Fenster aus schauten wir aufgeregt den Gästen auf der Terrasse beim Feiern zu. Es war zugleich der Tag, an dem der Vater nach fast dreißig Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte.
Über Bregenz stiegen Feuerwerkskörper hoch, denn der 4. Juli 1976 war zugleich der 200. Jahrestag der amerikanischen Unabhängigkeit. Einige in der Gegend wohnende Amerikaner sorgten mit ihren Raketen für zusätzlichen Glanz, der in unseren Kinderaugen auf den Vater fiel.
Seine jungen Kollegen hechteten durch das Fenster ins Schwimmbad hinein.
Bei der Geburtstagsfeier zu seinem Achtzigsten wünschte er jedem in der langen Reihe der Gratulanten »Alles Gute, Glück und Gesundheit«, dabei ergriff er mit seinen beiden Händen die ihm gereichten Hände. Er machte einen wachen Eindruck, genoss die Szene sichtlich und wirktenicht wie ein auf das bloße Pflichtteil des Glücks gesetzter Mensch. Den Bürgermeister, den der Vater in seinem letzten Jahr als Amtsleiter in die Geschäfte eingeführt hatte, forderte er auf, nicht so viel zu reden und lieber etwas zu singen. Das brachte ihm einige Lacher ein.
Meine Geschwister hatten eine kleine Powerpoint-Präsentation vorbereitet mit Schnappschüssen aus einem langen Leben. Ich saß am Tisch mit mehreren Geschwistern des Vaters, so dass ich nicht mitbekam, welchen Eindruck die Bilder auf ihn machten. Die Ahs und Ohs und das Lachen der Gäste sollen ihn mitgerissen haben. Nur als sein Großvater, der Schmied, in einem großen Lederschurz und mit einem schweren Hammer über der Schulter gezeigt wurde, sei er auf seine Schwächen zu reden gekommen in der gewohnten Manier:
»Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen – Herrschaft noch einmal – egal – es ist nicht weltbewegend.«
Familienfotos aus den frühen fünfziger Jahren strahlten von der weißen Wand herunter, Adolf und Theresia Geiger, umringt von den neun damals noch zu Hause wohnenden Kindern, kurz bevor Emma, eine der drei Töchter, an einem Blinddarmdurchbruch starb. Es war erstaunlich, wie alt die Großeltern schon damals ausgesehen hatten, optisch bereits an der Schwelle zum Greisentum, obwohl meine Großmutter noch weitere vierzig Jahre leben sollte, äußerlich fast unverändert, eine kleine, abgearbeitete Frau mit grauen Haaren und tiefen Gesichtsfurchen.
Bis auf einen der Söhne waren alle Überlebenden dieser Familie versammelt, Menschen aus einer vergangenen Epoche,Bauernkinder, die ihren Schulgriffel an der Schwelle im Keller gespitzt hatten, weil die Schwelle aus Sandstein gewesen war und sich der Griffel dort besonders gut hatte wetzen lassen – die Vertreter dieser sonderbaren Sippe, absurd erfinderisch und absurd lebenstüchtigmit ihren mehr praktischen als visionären Phantasien. – Es fehlte nur Josef, der einzige, der sich dem familiären Magnetismus entzogen und sich in die Welt hinaus getraut hatte. Er war Ende der fünfziger Jahre in die USA emigriert und hatte dort seinen amerikanischen Traum verwirklicht durch die Erfindung eines elektrischen Dosenöffners.
Ich fragte seine Geschwister, ob zufällig jemand eine Kopie des Fotos besitze, das meinen Vater bald nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft zeigt. Jeder wusste sofort, welches Foto ich meinte, gleichzeitig schüttelten
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