Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
sie die grau gewordenen Köpfe. Mile, die den Achtziger schon hinter sich hatte, meinte, das seien andere Zeiten gewesen, damals habe man nicht von jedem Foto so viele Kopien machen können, wie man wollte.
Paul erzählte von seiner eigenen Heimkehr aus dem Krieg und dass sich ihm ein verheerendes Bild geboten habe, weil kurz zuvor ein Gewittersturm über die Obstgärten hinweggegangen sei, stellenweise seien die Bäume kreuz und quer in den Feldern gelegen, die meisten arbeitsfähigen Männer kriegsbedingt abwesend, alles Kraut und Rüben, die Frauen mit der Arbeit im Stall und im Haushalt völlig ausgelastet. Robert, zu Kriegsende neun Jahre alt, sagte, er habe gerade auf dem Feld gearbeitet, als das Wetter unglaublich schnell heraufgezogen sei, er habe sich aneinen Baum geklammert, und es habe ihm heftig an die Beine gehagelt. Das Heufuder, das die Geschwister rasch nach Hause bringen wollten, sei im Bereich der Kalkhütte beinahe umgefallen. Und weil das Obst vom Hagel zusammengeschlagen worden war, hätten manche Bäume im Herbst zu blühen begonnen.
Mein Vater hatte all dies vergessen, und es schmerzte ihn nicht mehr. Er hatte seine Erinnerungen in Charakter umgemünzt, und der Charakter war ihm geblieben. Die Erfahrungen, die ihn geprägt hatten, taten weiterhin ihre Wirkung.
In diesem Jahr verbrachte ich, wie in all den Sommern davor, mehrere Wochen im Elternhaus. Es war spürbar, wie sehr die seit meiner Jugend gewachsene Distanz zwischen dem Vater und mir wieder kleiner wurde, und auch der von der Krankheit aufgezwungene Kontaktverlust, den ich seit längerer Zeit befürchtet hatte, trat nicht ein. Statt dessen freundeten wir uns nochmals an mit einer Unbefangenheit, die wir der Krankheit und dem Vergessen zu verdanken hatten; hier war mir das Vergessen willkommen. Alle Konflikte, die wir gehabt hatten, blieben zurück. Ich dachte mir, solche Gelegenheit kommt nicht wieder.
Auch Katharina, meine Lebensgefährtin, die damals in Innsbruck lebte, verbrachte einige Tage in Wolfurt. Eines Tages überredeten wir den Vater zu einem Spaziergang, er begleitete uns nur widerwillig und wollte ständig umkehren, obwohl wir über das Oberfeld nicht hinauskamen.Mein Vater ging mir ein wenig auf die Nerven, denn es war ein schöner Abend, ich wäre gerne mit ihm hinunter an den Fluss gegangen.
Als wir wieder in die Oberfeldgasse einbogen und sich der Blick hinunter aufs Dorf auftat, konnte ich dem Vater die Erleichterung ansehen, er freute sich und lobte die Aussicht.
»Bist du schon öfters hierher zum Spazieren gekommen?«, fragte er mich. »Manche Leute kommen nur hierher, um die Aussicht zu genießen.«
Mir kam das seltsam vor, und ich sagte:
»Ich komme nicht wegen der Aussicht hierher, ich bin hier aufgewachsen.«
Das schien ihn zu überraschen, er zog eine Grimasse und meinte:
»Ach, so. –«
Da fragte ich ihn:
»Papa, weißt du überhaupt, wer ich bin?«
Die Frage machte ihn verlegen, er wandte sich zu Katharina und sagte scherzend mit einer Handbewegung in meine Richtung:
»Als ob das so interessant wäre.«
Papa, was war die glücklichste Zeit in deinem Leben?
Als die Kinder klein waren.
Du und deine Geschwister?
Nein, meine Kinder.
Die Entwertung der religiösen und bürgerlichen Konventionen durch den Nationalsozialismus führte nach dem Krieg indirekt zu einer überzogenen Aufwertung dieser Konventionen. Paul sagt, nach dem Krieg hätten sie es gesellschaftlich mit einer Mondlandschaft zu tun bekommen, Frömmigkeit, Biederkeit und Anstand und nichts als Arbeit. Für junge Menschen sei die Situation verheerend gewesen.
Mein Vater mit seinen überschaubaren Wünschen dürfte die Situation als nicht ganz so beklemmend empfunden haben, für ihn galt ganz besonders, dass wir mehr danach streben, Schmerz zu vermeiden, als Freude zu gewinnen. Wieder in Wolfurt, konnte er seine Vorstellung von einem richtigen Leben verwirklichen und gleichzeitig ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität zurückgewinnen. Für Überraschungen war er nicht mehr zu haben, also auch nicht für Chancen. Denn um sich den Chancen, die von der Welt geboten werden, auszusetzen, braucht man Vertrauen, und das Vertrauen, sollte der Vater vor dem Krieg welches gehabt haben, war ihm vergangen. Erfahrung bildet Narbengewebe.
Sein Bedürfnis, ein ruhiges und unangefochtenes Leben zu führen, lotste ihn in die Geborgenheit einer beamteten Existenz und in die Obhut verschiedener dörflicher Vereine. Er
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