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Alte Meister: Komödie (German Edition)

Alte Meister: Komödie (German Edition)

Titel: Alte Meister: Komödie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Aber meine Frau ist gesund und sie überlebt mich um viele Jahre, so Reger damals. Wenn wir einen Menschen so innig lieben, wie ich meine Frau, können wir uns seinen Tod nicht vorstellen, wir ertragen nicht einmal den Gedanken daran, so Reger damals. Wie ich zum zweiten Mal in seiner Singerstraßenwohnung gewesen bin, ich hatte mir einen alten Spinozaband abgeholt, den er mir zu einem günstigeren Preis als normal verschafft hatte, eben nicht durch eine offizielle Buchhandlung, sondern durch einen illegalen Händler , veranlaßte ermich gleich bei meinem Eintreten in die Singerstraßenwohnung, auf dem erstbesten Sessel, der auch ein scheußlicher Loos-Sessel ist, Platz zu nehmen und er verschwand in seiner Bibliothek, um kurz darauf mit einem Band mit Novalis-Sätzen zurückzukommen. Ich lese Ihnen jetzt eine Stunde Novalis-Sätze vor, sagte er zu mir, und er blieb, während ich doch auf dem scheußlichen Loos-Sessel sitzen hatte müssen, stehen und las mir tatsächlich eine Stunde lang Novalis-Sätze vor. Novalis habe ich von Anfang an geliebt, sagte er, nachdem er das Buch mit den Novalis-Sätzen wieder zugeklappt hatte nach einer Stunde, und ich liebe ihn noch heute. Novalis ist der Dichter, den ich zeitlebens immer gleich und immer gleich-inständig geliebt habe, wie keinen andern. Alle sind sie mir mit der Zeit immer mehr oder weniger auf die Nerven gegangen, haben mich zutiefst enttäuscht, haben sich als unsinnig oder als zwecklos oder eben wie so oft als letzten Endes unerheblich und unbrauchbar herausgestellt, Novalis alles das nicht. Ich habe nie geglaubt, daß ich einen Dichter, der zugleich auch ein Philosoph ist, lieben kann, Novalis liebe ich, ich liebte ihn immer und allezeit und werde ihn auch in Zukunft mit derselben Innigkeit lieben, mit der ich ihn immer geliebt habe, so Reger damals. Alle Philosophen altern mit der Zeit, Novalis nicht, so Reger damals. Aber es ist doch eigenartig, daß meine Frau nicht einmal eine Vor liebe für Novalis gehabt hat, nicht einmal eine Vorliebe, während ich doch Novalis immer ganz geliebt habe. Von so vielem habe ich meine Frau mit der Zeit überzeugen können, von Novalis nicht, obwohl gerade Novalis der ist, von dem sie am meisten gehabt hätte, sagte er. Zuerst hat sie sich geweigert, mit mir ins Kunsthistorische Museum zu gehen, sagte Reger jetzt, sie hat sich sozusagen mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, aber dann ist sie doch hineingegangen mit mir, mit derselben Regelmäßigkeit wie ich und ich bin überzeugt, daß sie, wenn sie mich überlebt hätte und nicht ich sie, wie es der Fall ist, genauso wie ich jetzt, und zwar allein ohnesie, wieder in das Kunsthistorische Museum gehen würde, allein, ohne mich. Reger schaute jetzt wieder auf den Weißbärtigen Mann und sagte: vierzig Jahre nach Kriegsende haben die österreichischen Verhältnisse wieder ihren finstersten moralischen Tiefpunkt erreicht, das ist das Deprimierende. Ein so schönes Land, sagte Reger, und ein so abgrundtiefer moralischer Morast, sagte er, ein so schönes Land und eine so durch und durch brutale und gemeine und selbstzerstörerische Gesellschaft. Das Fürchterliche ist ja nur, daß man hier dieser Katastrophe nur ein auf den Kopf gestoßener Zuschauer sein und nichts dagegen tun kann, so Reger. Reger schaute den Weißbärtigen Mann an und sagte: jeden zweiten Tag gehe ich an das Grab meiner Frau, also wenn ich nicht ins Kunsthistorische Museum gehe, gehe ich ans Grab meiner Frau und ich stehe eine halbe Stunde an ihrem Grab und empfinde nichts. Das ist das Merkwürdige, daß ich die ganze Zeit mehr oder weniger nur an meine Frau denke und wenn ich an ihrem Grab stehe, empfinde ich nichts sie Betreffendes. Ich stehe da und empfinde tatsächlich nichts sie Betreffendes. Erst wenn ich von ihrem Grab wieder weggehe, empfinde ich wieder die Fürchterlichkeit, daß sie mich alleingelassen hat. Immer glaube ich, ich gehe an ihr Grab, um ihr besonders nahe zu sein, aber wenn ich an ihrem Grab stehe, empfinde ich nicht einmal etwas sie Betreffendes. Dann reiße ich Gräser aus, die da wachsen und schaue zu Boden, aber empfinde nichts. Aber ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, jeden zweiten Tag zum Grab meiner Frau zu gehen, das ja einmal auch mein Grab sein wird, so Reger. Wenn ich an diese Grauenhaftigkeiten denke, die mit ihrem Begräbnis zusammenhängen, sagte er, wird mir noch heute übel. Immer wieder hat die Druckerei den Partezettel, den ich in Auftrag gegeben habe, falsch

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