Alte Meister: Komödie (German Edition)
Menschen, bis wir von einem Augenblick auf den anderen den richtigen sehen , von da an geht alles sehr schnell, von da an hat meine Frau alles sehr rasch begriffen, aber natürlich hätte ich sicher noch jahrelang, wenn nicht jahrzehntelang an ihr arbeiten können, so Reger damals in der Singerstraßenwohnung. Wir nehmen eine Frau und wissen nicht, warum wir sie genommen haben, doch nicht nur, daß sie uns immer in ihrer Haushaltsbetulichkeit lästig ist, eben auf ihre weibliche Weise, so Reger damals in der Singerstraßenwohnung, wir nehmen sie doch, weil wir sie mit dem eigentlichen Wert des Lebens bekannt machen wollen, sie darüber aufklären wollen, was das Leben sein kann, wenn es geistig geführt wird . Wir dürfen natürlich nicht in den Fehler verfallen, einer solchen Frau das Geistige in ihren Kopf hineinzutrommeln, wie ich das am Anfang versuchthabe, worin ich naturgemäß scheitern mußte, die Behutsamkeit ist es auch da, die zum Ziel führt, sagte Reger damals in der Singerstraßenwohnung. Alles, das meine Frau geliebt hat, bevor ich sie kennenlernte, hat sie, nachdem ich sie aufgeklärt habe, nicht mehr geliebt, außer in dieser Jugendstilhysterie diesen sogenannten Jugendstil, diesen abstoßenden Kunst-Kitsch, diese ekelhafte Jugendstil-Geschmacksverirrung; da hatte ich keine Chance. Aber ich habe ihr natürlich mit der Zeit die falsche und also die wertlose Literatur austreiben können und die falsche und wertlose Musik, sagte Reger, und ich habe sie mit wesentlichen Teilen der Weltphilosophie bekannt gemacht. Der weibliche Kopf ist der widerspenstigste, so Reger damals in der Singerstraßenwohnung, wir glauben, er ist zugänglich, während er doch unzugänglich ist. So viele unsinnige Reisen hat meine Frau gemacht, bevor ich sie geheiratet habe, so Reger damals, die sie mit der Zeit nicht mehr gemacht hat, sie hatte ja, wie die meisten Frauen heute, den Reisewahn, heute dahin, morgen dorthin, das ist ihre Parole und im Grunde erleben sie nichts, sehen sie nichts, bringen sie nichts als die leere Geldtasche mit nach Hause. Nach unserer Hochzeit hat meine Frau keine Reise mehr gemacht, so Reger, nurmehr noch diese Geistesreisen , die ich mit ihr unternommen habe, wir sind in den Schopenhauer gereist und in den Nietzsche und in den Descartes und in den Montaigne und in den Pascal und zwar immer für Jahre, so Reger. Hier, sehen Sie, sagte Reger damals in der Singerstraßenwohnung und setzte sich selbst auf einen Sessel, der ein scheußlicher Ottowagnersessel ist, auf diesem scheußlichen Ottowagnersessel hat meine Frau mir gestanden, daß sie, obwohl ich ihr ein ganzes Jahr Unterricht in Schleiermacher erteilt habe, Schleiermacher nicht verstanden habe. Da sie selbst mir aber im Laufe dieses Unterrichts in Schleiermacher den Schleiermacher verleidet hatte und ich dann auch plötzlich nicht mehr das geringste Interesse an Schleiermacher gehabt habe, habe ich ganz einfach zur Kenntnis genommen,daß sie Schleiermacher nicht verstanden hat und ich habe mich nicht mehr mit Schleiermacher beschäftigt; wir müssen dann ganz einfach einen solchen von unserer Frau nicht verstandenen Philosophen, eben einen solchen Schleiermacher, völlig skrupellos links liegenlassen, wie gesagt wird, und weiter gehen. Ich begann gleich mit einer Unterweisung in Herder, das empfanden wir beide als Erholung, so Reger damals in der Singerstraßenwohnung. Nach dem Tod meiner Frau hatte ich gedacht, ich werde aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen, aber ich bin dann doch nicht ausgezogen, weil ich ganz einfach zu alt dazu bin. Eine Übersiedlung geht über meine Kräfte, so Reger. Zwei Räume genügten natürlich, so Reger, aber wenn wir nicht mehr ausziehen können, müssen wir uns mit zehn oder zwölf, wie sie die Singerstraßenwohnung hat, abfinden. Alles in dieser Wohnung erinnert mich an meine Frau, sagte Reger, ich kann hinschauen wo ich will, immer steht sie da, sitzt sie dort, kommt sie aus dem einen oder anderen Zimmer auf mich zu, es ist entsetzlich, wenn es auch herzzerreißend zugleich ist, tatsächlich, es ist herzzerreißend, sagte Reger. Damals, als ich zum ersten Mal in der Singerstraßenwohnung gewesen bin und seine Frau noch gelebt hat, hat er zu mir gesagt, während er auf die Singerstraße hinuntergeschaut hat, wissen Sie, Atzbacher, nichts fürchte ich so, als wenn ich plötzlich von meiner Frau verlassen und allein wäre, das Fürchterlichste, das mir zustoßen kann, ist, daß sie stirbt und mich allein läßt.
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