Alte Narben - [Kriminalroman aus der Eifel]
verwirrt war, und er wusste auch warum, wenn er ehrlich war.« Und so konzentrierte Lorenz sich zunächst auf Gustav. Dessen Homosexualität machte ihm mehr zu schaffen, als ihm lieb war. Von solchen Dingen hatte er nicht die allergeringste Ahnung. Bis jetzt musste er das auch nicht, doch nun war es ein Teil seines Lebens geworden. Er wusste, dass er nicht viele Freunde hatte und dass er sich ein Leben in der Seniorenresidenz ohne Gustav und Bärbel nicht mehr vorstellen mochte. Also würde er damit klarkommen müssen. Erneut nahm er sich vor, mit Gustav darüber zu sprechen. Er konnte davor nicht weglaufen, und er schämte sich auch, das spürte der Alte deutlich, für seine Feigheit. Und Bärbel – seine Beziehung zu ihr war ihm auch nicht klar. Doch diesen Gedanken schüttelte er gleich unwillig ab. Er war vierundsiebzig Jahre alt und Witwer. Was gab es da noch zu überlegen? Lieber wandte er sich den jungen Leuten von der – wie hatte Benny es genannt? – Antifa zu. Mit solchen Leuten hatte er noch nie gesprochen. Besonders dieser Kalle war ganz offensichtlich sehr gewaltbereit. Konnte das der richtige Weg sein, mit diesen Neonazis umzugehen? Gewalt gegen Gewalt? Das konnte doch nicht richtig sein, da hatte Bärbel bestimmt recht. Aber andererseits, wie war das damals gewesen? Er war 1937 geboren, zu spät um das Dritte Reich bewusst mit einer politischen Meinung zu erleben.
Lorenz musste lächeln. Er sah seinen Vater, wie er den kleinen Volksempfänger einschaltete, die Goebbelsschnauze, wie er das Gerät nannte. Dabei sich selbst, wie er mit Hitlergruß im Wohnzimmer stand, als die Stimme des Führers aus dem kleinen Lautsprecher schallte. Er hatte als fünf- oder sechsjähriger Junge nichts verstanden, außer dass er zu einem starken Volk gehörte, dem der Sieg über alles mögliche Böse bestimmt war. Und das konnte ja nicht das Schlechteste sein. Der Vater war in den Vierzigerjahren schon zu alt für den Kriegseinsatz gewesen oder auch wegen einer Verwundung aus dem Ersten Weltkrieg nicht mehr tauglich, so genau wusste Lorenz das gar nicht. Erstaunlich eigentlich, befand er. Auch erinnerte er sich jetzt erst wieder, dass sein Onkel, der ältere Bruder seines Vaters, der ständig bei ihnen zu Hause saß, eine Uniform trug, obwohl auch er doch gar nicht Soldat war. Und die Gespräche, die immer einen ganz anderen Klang hatten, wenn der Onkel da war. Er hatte sich nie gefragt warum. Oder warum der Onkel sich immer so schrecklich aufregte, wenn er mit einem lauten »Heil Hitler!« ihre Wohnung betrat und sein Vater mit einem schnell und fahrig gesprochenen »Drei Liter« antwortete.
Lorenz seufzte. Wie so viele hatte auch er nicht wirklich nachgedacht. Gut, damals war er zu jung gewesen. Aber auch später hatte er dies nicht nachgeholt. Wenn er jetzt diese jungen Leute hörte, die keine Skrupel zu haben schienen, gegen Neonazis Gewalt anzuwenden, kam er ins Grübeln. Was wäre denn gewesen, wenn man den braunen Pöbel auf der Straße härter bekämpft hätte, bevor er die Staatsgewalt an sich riss? Was, wenn man vor 1933 die Nazis erbarmungslos verprügelt, ja totgeschlagen hätte, wo immer sie ihre Hassprediger in Stellung bringen wollten? Der demokratische Staat war offenbar zu schwach oder zu nachgiebig gewesen. Zum Dank schafften die Nazis ihn ab, als sie sich von einem eher unbedeutenden Haufen politischer Wirrköpfe und Schlägertrupps zu einer mächtigen Partei gemausert hatten. Hätten der verheerende Weltkrieg und der Holocaust verhindert werden können? Oder wären dann nur andere Hassprediger an die Macht gekommen, andere Prügelknechte? Hätte er, ein paar Jahre früher geboren, den Mut zur Gewalt aufgebracht, den diese jungen Leute heute hatten und der den meisten Deutschen damals wie heute fehlte? Oder war und ist dieser Weg immer falsch?
Lorenz gab sich einen Ruck und erhob sich aus dem Bett. Er ging zum Computer und schaltete ihn ein. Während sich das Gerät surrend und piepsend zur Benutzung vorbereitete, murmelte Lorenz: »Der alte Kommissar wusste, er würde Hilfe brauchen. Zu viele Fragen, die er alleine nicht würde beantworten können.«
Dann öffnete er das Email-Programm, welches Rita ihm erklärt hatte. Dort fand er auch die Adresse des Pfarrers Friesdorf, den er schon seit Tagen hatte kontaktieren wollen. Konzentriert tippte er eine Nachricht, und mit jedem Klick auf der Tastatur erstarkte in Lorenz das Gefühl, endlich wieder wach und aktiv zu werden. Er spürte, wie seine
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