Alte Narben - [Kriminalroman aus der Eifel]
die die Kölner Erzbischöfe ihren Juden im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert ausgestellt haben. Diese Anzahl zeigt schon, wie wenig jeder einzelne genutzt haben mag. Es gab leider immer wieder Übergriffe, und mit dem Pestpogrom von 1349 wurde die jüdische Gemeinde in Köln ausgelöscht. Deren herrenlose Güter eignete sich dann ausgerechnet der damalige frisch gebackene Erzbischof Wilhelm von Gennep an.«
»War denn dieser Erzbischof Engelbert ein Freund der Juden?«, fragte Lorenz. »Ich kenne diesen Herrn eher als Machtpolitiker, der übrigens bei uns in Nideggen drei volle Jahre und ein halbes im Kerker gesessen hat.«
Hardering schüttelte die silbergraue Lockenpracht, welche sein jugendliches Gesicht umrahmte und bis auf seine Schultern fiel. »In der Tat hat Engelbert dieses Judenprivileg nicht aus humanistischen Beweggründen aufgesetzt. Man könnte seine Beziehung zu den Juden eher als eine Art Joint Venture bezeichnen. Er lieh sich regelmäßig Geld von ihnen und stand ständig bei ihnen in der Kreide. Es lag in seinem Interesse, die Finanzkraft seiner jüdischen Gemeinde zu erhalten. Und von einem Privileg im Sinne einer Bevorzugung kann man auch bei bestem Willen nicht sprechen, eher schon von einer theoretischen Gleichstellung aus wirtschaftlichem Kalkül.«
Lorenz nickte. »Die Juden waren für alle Fürsten im Reich eine gute Einnahmequelle. Wenn ich das richtig sehe, wollte unser in Nideggen ansässiger Graf Wilhelm, welcher zu dieser Zeit der Vierte seiner Linie war, auch an diesen Geldtopf – einer der Kriegsgründe gegen Engelbert und seinen Vorgänger Konrad von Hochstaden.«
»Ja, in dieser Fehde kennen Sie sich bestens aus, ich erinnere mich«, lächelte Hardering. »Haben Sie damals eigentlich gefunden, was Sie gesucht haben?«
Lorenz grinste undurchsichtig. »Ja und nein. Das Artefakt, welches dem alten Konrad so wichtig gewesen war, habe ich nie zu Gesicht bekommen. Es war wohl auch nicht mehr als ein altes, verrostetes Stück Eisen.«
»Er flunkert mit Sicherheit, ich kenne ihn«, warf Pfarrer Friesdorf ein. »Aber lassen wir das – gab es da nicht eine Unklarheit bezüglich der Originalität des Judenprivilegs?«
»Genau«, bestätigte Hardering. »Das ist interessant: Es gibt ein Foto des Steins aus dem Jahre 1928. Und wenn man genau hinsieht, Helga Giersiepen hat es akribisch untersucht, dann stellt man fest, dass es sich nicht um ein Foto der Urkunde handelt, die im Dom steht. Angeblich war das Motiv für dieses Foto ein Abguss des uns bekannten Exemplars, aber dies ist unmöglich. Auf den ersten Blick scheint es identisch. Dieselben gotischen Majuskeln. Aber manche Buchstaben sind völlig anders ausgeführt, teilweise auch anders platziert. Es gibt keinen Zweifel daran, dass es mindestens zwei Steintafeln gegeben hat. Und dieses zweite Judenprivileg ist unauffindbar.«
»Kann das denn sein? Zwei Ausfertigungen?«, fragte Lorenz.
»Aber ja«, antwortete Hardering. »Urkunden wurden oft in mehrfacher Ausfertigung erstellt, selbst solche Steinurkunden. Vermutlich haben die Kölner Juden beide Exemplare selbst bezahlt. Eines bewahrten sie vielleicht im Judenviertel auf, während das andere im Dom verblieb. Aber dieses verschollene, etwas anders beschriftete Exemplar muss mindestens so lange ebenfalls unversehrt existiert haben, bis man davon einen Gipsabdruck erstellen und diesen fotografieren konnte. Gipsabdrücke von älteren Artefakten wurden vermehrt hauptsächlich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angefertigt. Die Entstehung des Abdruckes lässt sich aber nicht verlässlich datieren. Die Geschichte dieses Judenprivilegs, welches das Foto von 1928 zeigt, bleibt im Dunkeln.«
»Das ist spannend«, meinte Lorenz, und seine Augen funkelten. »Und was sagten die Nazis zu dem Judenprivileg? Es muss denen doch ein Dorn im Auge gewesen sein, einen Schutzbrief für die Juden hier im Dom stehen zu haben, quasi ein uralter Zeuge der christlich-jüdischen Zusammenarbeit.«
»Nun«, meinte Hardering. »Zum einen wurde diese Steinurkunde jahrhundertelang an eher unscheinbaren Plätzen aufbewahrt, und selbst an ihrem heutigen Ort, wo täglich Tausende von Besuchern an ihr vorbeigehen, bleibt sie meist unbemerkt. Zudem haben die Nazis auch die Gelegenheit ergriffen, die Hintergründe in ihrem Sinne zu interpretieren. So hat 1933 ein Herr Rodens im
Kölner Beobachter
einen Artikel verfasst, der das Judenprivileg umdeutete zu den ersten Anfängen einer Ausnahmegesetzgebung
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