Alter schützt vor Scharfsinn nicht
Eigentlich wollte ich vorher anrufen, falls Sie nicht zuhause wären oder mich nicht brauchen könnten. Aber es ist wirklich nicht wichtig und wenn es Ihnen lieber ist, kann ich gleich wieder gehen. Ich meine, ich hätte volles Verständnis und wäre nicht beleidigt…«
»Aber ich freue mich doch, Sie zu sehen, Mrs Beresford«, sagte Mrs Griffin.
Sie setzte sich ein wenig auf dem Stuhl zurück, um sich bequemer anlehnen zu können, und sah mit ehrlicher Freude in Tuppence’ etwas verlegenes Gesicht.
»Es ist wirklich nett, wenn jemand Neues herzieht. Wir sind so an unsere Nachbarn gewöhnt, dass ein neues Gesicht – in Ihrem Fall sogar zwei – ein reines Vergnügen ist. Wirklich ein Vergnügen, glauben Sie mir! Sie müssen mal zum Abendessen kommen. Ich weiß nicht, wann Ihr Mann nachhause kommt. Er fährt ja meistens nach London, nicht wahr?«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank. Hoffentlich besuchen Sie uns auch und sehen sich das Haus an, wenn es erst ganz eingerichtet ist. Eigentlich sollte es längst fertig sein, aber es fehlt immer noch etwas.«
»Häuser haben das so an sich«, sagte Mrs Griffin.
Mrs Griffin – Tuppence wusste es aus mehreren Informationsquellen, zum Beispiel von ihrer Putzfrau, vom alten Isaac und von Gwenda aus der Poststelle – war um die neunzig. Die gerade Haltung, mit der sie ihren vom Rheuma geplagten Rücken zu entlasten versuchte, ließ sie viel jünger wirken. Trotz des faltigen Gesichts erinnerte der weißhaarige Kopf mit dem Spitzenschal Tuppence entfernt an zwei frühere Großtanten. Die alte Dame trug eine zweifach geschliffene Brille und einen Hörapparat, den sie, so weit Tuppence feststellen konnte, nur selten benötigte. Sie sah durchaus wach und munter aus und wirkte, als könnte sie mühelos hundert oder noch mehr Jahre alt werden.
»Was haben Sie in letzter Zeit denn so gemacht?«, fragte Mrs Griffin. »Die Elektriker sind Sie ja los. Das weiß ich von Dorothy. Mrs Rogers, wissen Sie. Sie war früher als Mädchen bei mir. Jetzt kommt sie noch zweimal in der Woche zum Putzen.«
»Gott sei Dank, dass sie fort sind«, antwortete Tuppence. »Ich bin immer in die Löcher gefallen, die sie aufgerissen haben. Eigentlich bin ich gekommen – ach, es hört sich ziemlich töricht an, aber ich dachte… Ich habe im Haus aufgeräumt, Bücherregale und so was, verstehen Sie. Wir haben von unseren Vorgängern alte Bücher übernommen, hauptsächlich Kinderbücher, und ich habe ein paar frühere Lieblinge darunter entdeckt.«
»Oh, das kann ich verstehen«, sagte Mrs Griffin. »Sicher hat es Sie entzückt, sie wieder zu lesen. Der Gefangene von Zenda vielleicht? Den hat meine Großmutter schon gelesen. Ich übrigens auch. Ach, das war so schön romantisch! Ich glaube, es war die erste Liebesgeschichte, die wir damals lesen durften. Sie wissen ja, Romane zu lesen galt nicht als schicklich. Meine Mutter und meine Großmutter erlaubten nie, dass man vormittags schon einen Roman las. Etwas Historisches oder Ernstes – das ja, doch Romane galten als Vergnügen, und das gab’s erst am Nachmittag.«
»Ich weiß«, sagte Tuppence. »Ich habe viele Bücher gefunden, die ich gern nochmal lesen würde. Die von der Molesworth, zum Beispiel!«
»Das Gobelinzimmer?«, fragte Mrs Griffin verständnisvoll.
»Ja. Ich habe es sehr geliebt.«
»Mir hat Die Farm zu den vier Winden am besten gefallen.«
»Ja, das ist auch da. Es war wirklich eine Fundgrube. So viele alte Autoren! Dann bin ich zum untersten Fach gekommen und mit dem muss etwas passiert sein. Es war eingedrückt, wissen Sie. Vielleicht ist es beim Umstellen der Möbel geschehen. Es war ein Loch im Boden. Ich habe eine Menge altes Zeug darin gefunden, meistens zerrissene Bücher. Dazwischen hat dies gelegen.«
Sie holte ein in braunes Packpapier eingeschlagenes Päckchen heraus.
»Es ist ein Geburtstagsbuch, ein ganz altmodisches Geburtstagsbuch. Ihr Mädchenname steht auch darin. Ich erinnere mich, dass Sie ihn mir genannt haben: Winifred Morrison. Das stimmt doch?«
»Ja, das ist richtig.«
»Ich dachte, es könnte Ihnen Spaß machen, es sich anzusehen. Vielleicht stehen Namen alter Freunde darin. Oder von Bekannten.«
»Sehr freundlich von Ihnen, meine Liebe. Ich sehe es mir mit großem Vergnügen an. Wissen Sie, Dinge aus der Vergangenheit sind oft sehr amüsant, wenn man sie im Alter wieder trifft. Was für ein reizender Einfall!«
»Es ist ziemlich vergilbt und abgegriffen«, sagte Tuppence und
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