Altes Herz geht auf die Reise - Roman
Grün: der Stock hatte die schöne, steile, benadelte Spitze mit einem Schlage für immer geknickt!
Rosemarie trabt weiter, sie hat einen guten Begriff von dem Zorn, der in Schlieker sitzt. Nun kommt sie schon indie Nähe des Waldhauses. Hier ist der Hochwald fast ohne Unterholz, sie muß langsamer und vorsichtiger gehen, vielleicht ist er direkt vor ihr. Von Stamm zu Stamm schleicht sie, eine Hand auf dem rasch pochenden Herzen, nun wird es lichter und licht. Da ist die kleine Waldblöße, der graue, alte Schuppen, das niedrige Dach. Die Sonne liegt sanftgelb auf der Lichtung, alles ist still und friedlich, die halb offenstehende Tür bewegt sich leise im Wind und knarrt auch einmal.
Das Mädchen hinter dem silbergrauen Buchenstamm starrt und lauscht, lauscht und starrt. Sonne und Wind, Stille und Frieden können sie nicht täuschen: der Feind ist hier, und wenn er still ist, ist er doppelt gefährlich. Sie möchte ein Wort hören, einen Ausruf, vielleicht sogar lieber noch Streit, dann wäre der Entschluß leichter, vorzugehen, einzugreifen. In der Ferne scheckert ein Eichelhäher, es klingt wie höhnisches Lachen – und nun ist wieder alles still. Vorsichtig umkreist sie die Lichtung, dann, als sie die fenster-, türlose Rückwand des alten Stalls vor sich hat, entschließt sie sich, verläßt die Deckung, läuft so schnell sie kann über die Lichtung und lehnt sich gegen die Wand.
Totenstille, sie drückt ihr Ohr gegen die Mauer: Totenstille. Und aus dieser tiefen, rätselvollen, peinigenden Stille heraus fängt ihr Herz immer lauter, dröhnender zu klopfen an: langsam erst, als erwarte es einen dunklen Schrecken und hole aus …, und schneller und schneller. Nun hämmert es in allen Gliedern, ihre Ohren dröhnen, als stehe sie im Turm unter dem Kriwitzer Glockengeläut. Vor ihren Augen wird es grau, Fetzen wie Nebelstreifen fliegen vorbei, Schreckbilder stehen vor ihrer Seele: der alte Mann liegt auf dem Boden, das füchsische, böse Gesicht beugt sich mit den weit offenen, hellen Augen über ihn, die gelben Zähne werden bloß …
Und alles versinkt, entweht und entflattert, das Herzgeht wieder leichter, der Blick wird klar – es hat trocken drinnen im Stall gehüstelt, er hat gehüstelt!
So ist er also allein! Sie kennt dies trockene Hüsteln an ihm, so macht er, wenn er für sich ist und über etwas nachdenkt.
Sachte schiebt sie sich um die Hausecke, schiebt sich – oh, so sachte und vorsichtig! – die Wand entlang. Dabei sehen ihre Augen starr auf den Boden, sehen jedes Steinchen, jedes trockene Ästlein …
Unter dem Fenster hoch über ihrem Kopf hält sie kurz an, lauscht, aber das Fenster ist geschlossen, und sie hört nichts. Sie schleicht weiter, nicht für eine Sekunde verliert sie ihre bedachtsame Vorsicht. Lautlos nähert sie sich der nächsten Ecke, gleitet um sie herum. Grade vor ihr, keine zwei Meter ab, ist die halb offene Tür. Wenn jetzt Schlieker aus ihr träte, sähe er sie!
Aber nun geht sie nicht mehr zurück, nun geht sie nur vorwärts. Seltsame Wandlung! Stille und Hüsteln haben sie völlig überzeugt, daß Schlieker allein in der Hütte ist, kein alter Professor bedarf ihrer Hilfe, sie könnte entlaufen – aber nichts! Sie schiebt sich näher. Stärker als alle Angst ist die Lust zu erfahren, was der Feind dort tut.
Jetzt hat sie die Tür erreicht, jetzt hat sie sich hinter ihr versteckt, durch den Spalt zwischen Mauer und Tür kann sie in das Innere des Stalls sehen.
Sie übersieht kaum ein Fünftel des Raumes, eigentlich nur eine Ecke, in der ein Holzstuhl sichtbar ist und Kopfende und Mittelteil ihres Betts. Dies Raumstück ist leer, doch sie hört Schlieker im unsichtbaren Raum wirtschaften.
»Stünde ich auf der andern Seite der Türöffnung«, überlegt sie, »könnte ich ihn sehen. Aber dann fehlte die Deckung durch die Tür, und mein Schatten würde über die Schwelle fallen. Nein, besser so!«
Zugleich fällt ihr auf, daß der Stuhl dort am Bett nicht leer ist, es stehen und liegen darauf die Lebensmittel, die ihr die Kinder gebracht haben: Brot und Eier, ein paar Tüten, eine Wurst. Nun – und das Herz fängt wieder an schneller zu schlagen – tritt ein Schatten in ihr Gesichtsfeld, es ist der Schlieker. Für einen Augenblick sieht sie das entstellte Gesicht mit dem blaugeschundenen Auge, der geplatzten, blutig geschlagenen Lippe, aber dann dreht der Mann ihr den Rücken und setzt mit seinen langen, knochigen Fingern auf den Stuhl, was er im Arm hatte: noch
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