Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
einleuchtend war, soweit Stavan sehen konnte.
»Es ist eine Sache der Ehre«, fügte er hinzu.
»Was ist Ehre?« wollte Arang wissen.
Stavan seufzte und fing ganz von vorne an. »Ehre ist, was dem Leben eines Mannes Sinn und Bedeutung verleiht. Es ist mehr als Loyalität, sogar mehr als Treue, es ist ...« Er brach hilflos ab. Es war unmöglich, den Hansi-Begriff der Ehre in Worte zu fassen. Ehre war nicht etwas, was man erklären mußte; wenn man in den Stamm hineingeboren war, dann atmete man sie wie Luft ein. Aber Arang war nicht unter den Hansi aufgewachsen. Stavan entschied, es so einfach wie möglich zu sagen. »Es ist folgendermaßen: Bevor ich wußte, daß Marrah meine Lebensretterin war, hatte ich vor, so bald wie möglich aufzubrechen. In jenen Tagen war es für mich ein Gebot der Ehre, zu meinem Vater zurückzukehren und ihn wissen zu lassen, wie Achan gestorben war. Mein Vater war mein Häuptling.« Jetzt würde er zuerst die Wörter »Vater« und »Häuptling« erklären müssen.
Er holte tief Luft und fuhr fort: »Er war sozusagen der Große Aita von allen Aitas, und ich schuldete ihm alles: Gehorsam, Loyalität, sogar mein Leben, wenn er es so wollte.«
»Warum?
Die Frage überraschte Stavan. »Warum? Weil er mein Vater ist, deshalb. Und nicht nur das, er ist auch der Große Häuptling aller Hansi. Deshalb muß ich ihn respektieren und tun, was er befiehlt.«
»Aber würdest du nicht tun, was dein Aita von dir verlangt, einfach weil du ihn liebst? So empfinde ich für dich und Mama; und auch für Marrah – meistens jedenfalls. Ich liebe euch alle, und ich weiß, ihr versucht, das zu tun, was das beste für mich ist. Und wenn ihr mir zum Beispiel sagt, ich soll keine unreifen Äpfel essen, oder nicht –«
»Wir kommen vom Thema ab«, unterbrach Stavan ihn. »Liebe hat nichts damit zu tun. Du kannst aus Gründen der Ehre dazu verpflichtet sein, jemandem zu gehorchen, den du haßt; es macht keinen Unterschied. Und was deine Mama und Marrah betrifft ... zwischen Frauenehre und Männerehre ist ein großer Unterschied. Die Ehre einer Frau ist ihre Unberührtheit.«
Er sah, wie Arang ihn wieder verständnislos anblickte. »Aber mach dir darüber keine Gedanken«, fügte er hastig hinzu, als ihm klar wurde, daß er schließlich auch noch erklären müßte, was eine Jungfrau war. »Laß uns nicht abschweifen.« Er hielt einen Finger hoch. »Also, wie ich schon sagte, bevor ich wußte, daß Marrah mir das Leben gerettet hat, stand meine Pflicht gegenüber meinem Vater an erster Stelle. Aber als ich erfuhr, daß sie mich aus dem Wasser gezogen und mir Leben eingehaucht hatte«, er hob einen zweiten Finger, »galt meine Loyalität ihr. Aber das bedeutet nicht, daß ich aus der Pflicht gegenüber meinem Vater entlassen bin. Wenn ich Marrah jemals das Leben rette«, er senkte den zweiten Finger, »bin ich ihr gegenüber nicht mehr verpflichtet, und dann werde ich zum Grasmeer zurückkehren und meinem Vater sagen müssen, wie Achan starb.«
Arangs Gesicht wurde lang. »Ich verstehe nicht.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und seine Mundwinkel zitterten verdächtig. »Ich dachte, du hättest gerade gesagt, du würdest uns nicht verlassen. Ich dachte, du liebtest uns. Ich dachte –«
»Arang«, erwiderte Stavan ungeduldig, »hast du denn kein Wort von dem verstanden, was ich dir erzählt habe? Ich will dich und deine Schwester nicht verlassen, aber wenn ...« Zwei dicke Tränen quollen aus Arangs Augen und kullerten seine Wangen hinunter. »Ach, vergiß es«, rief Stavan. »Ich gehe nirgendwohin. Ist das verständlich genug für dich?«
Arangs Miene hellte sich auf. »Dann wirst du den ganzen Weg nach Shara mit uns kommen? «
»Nach Gira, nach Shara, sogar in die Hölle selbst, wenn es sein muß. Und jetzt hör auf zu weinen und konzentriere dich auf die Fische, sonst werden wir mit leeren Händen ins Dorf zurückgehen müssen.« Er hielt inne. »Und untersteh dich, deiner Schwester zu erzählen, was ich über den Unterschied zwischen Frauenehre und Männerehre gesagt habe. Es würde ihr wahrscheinlich nicht gefallen.«
Arang wischte sich die Tränen aus den Augen. »Warum nicht? Hast du Angst, sie könnte dich aus ihrem Bett werfen, wenn ich es ihr erzähle?«
Stavan war schockiert. »Natürlich nicht. Wovon redest du eigentlich? Marrah ist die sanftmütigste Frau auf dem Erdboden, und ob ich in ihrem Bett liege oder nicht, geht dich nichts an.«
Wieder herrschte eine Zeitlang
Weitere Kostenlose Bücher