Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Schweigen, während sich Arang verschiedenes durch den Kopf gehen ließ. Schließlich blickte er auf, mit einem so unschuldigen Ausdruck im Gesicht, daß Stavan sich wunderte, daß die Vögel nicht aus den Bäumen geflogen kamen und sich auf seinen Kopf setzten. »Ich habe mich nur gefragt ...«, begann er in harmlosem Ton.
»Was gefragt? «
»Was ›Unberührtheit‹ ist.«
Stavan war klug genug, um zu wissen, wann er erpreßt wurde. Einen Moment lang war er verärgert, dann wurde sein Ärger von Belustigung verdrängt. Arangs Schweigen würde also seinen Preis haben. Nun, welcher Junge in seinem Alter würde nicht soviel über die Lust wissen wollen, wie er einen Erwachsenen überreden konnte, ihm zu erzählen?
Stavan band die Angelschnur um einen Stein, dann lehnte er sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und begann zu erklären, von Vater zu Sohn – oder eher, von Aita zu Neffe –, was genau Männer und Frauen im Bett miteinander taten. Er war ein bißchen verlegen, weil er es nicht gewöhnt war, dieses Thema mit Kindern zu erörtern, und einige der Bezeichnungen erschienen ihm ziemlich derb, aber er wußte keine anderen, und so tastete er sich vorwärts, so gut er konnte, und als er schließlich fertig war, stellte er zufrieden fest, daß Arang verstanden hatte. »So«, schloß er. »Noch irgendwelche Fragen? «
Arang machte ein nachdenkliches Gesicht. »Es klingt nicht so, als ob es besonders Spaß machen würde.« Stavan holte zu einer ernsten Erklärung aus, daß sich die Vorstellungen eines Jungen von Spaß änderten, wenn er zum Mann heranwuchs, doch Arang unterbrach ihn. »Ich meine damit nicht, daß es keinen Spaß macht, Lust zu teilen, Stavan. Jeder weiß, daß es eines der besten Dinge ist, die es gibt. Was ich meine, ist, daß eure Hansi-Art, es zu tun, nicht besonders vergnüglich klingt. Seid ihr alle wirklich so schlecht im Bett ?«
Stavan lachte so heftig, daß er sich beinahe verschluckt hätte. »Ja«, sagte er japsend, »ja. Wir Hansi haben offensichtlich den Ruf, die schlechtesten Liebhaber auf dieser Erde zu sein, wie ein Mann mit deiner großen Erfahrung auf den ersten Blick erkennen kann. Verrate mir eines: Hast du in deinem ganzen langen – wie viele Jahre sind es jetzt? – neunjährigen Leben schon jemals von einem Volk gehört, das dringender Unterricht in Sachen Liebe gebraucht hätte ?«
Arang begriff den Scherz nicht. »Nein«, erwiderte er. »Aber keine Sorge. Ich bin sicher, Marrah kann dir beibringen, wie man es tut, damit es Spaß macht.«
Stavan hätte ihm erzählen können, daß Marrah ihn bereits genug gelehrt hatte, um einen Mann für den Rest seines Lebens glücklich zu machen, aber auch das ging Arang nichts an. Lächelnd griff er nach der Angelschnur und warf sie ins Wasser, so daß sie in einem weichen Bogen fiel und mit der Strömung schwamm. »Sei endlich still, du vorlautes Balg«, knurrte er, »du vertreibst die Fische.« Es hätte vielleicht schroff geklungen, nur daß Stavan dabei übers ganze Gesicht grinste.
Die Zeit verging, und auf den Winter folgte der Frühling. Das Schiff, auf das sie gewartet hatten, traf endlich ein, nachdem die schweren Regenfälle seit mehreren Wochen vorbei waren. Es war eine grüne, frische Jahreszeit: Lämmer und neugeborene Zicklein tollten auf saftigen Wiesen, die unter der Sommersonne schnell vertrocknen würden, und die Häuser von Lezentka waren mit blühenden Rosen und Geißblatt bedeckt, deren berauschend süßer Duft das gesamte Dorf erfüllte.
Marrah saß gerade in der Töpferwerkstatt des Tempels und versuchte, einen Klumpen roten Ton zu einem Kochtopf zu formen, als sie die Kinder draußen rufen hörte: »Ein Segel! Ein Segel!« Das Töpfern war schon ein wenig besser als bisher gegangen, aber sie stellte sich immer noch ungeschickt an, neigte ebenso leicht dazu, einen Topf zu zertrümmern, wie einen ganzen zustande zu bringen, und bei dem Klang der aufgeregten Stimmen draußen zitterten ihre Finger plötzlich und verdarben den Rand, den sie so geduldig modelliert hatte.
Mit einem ungeduldigen Ausruf packte sie den schiefen Topf, knetete ihn zu einer Kugel und warf sie in die Ecke zu dem Rest ihrer mißlungenen Versuche. Dann lief sie aus dem Tempel, die Arme bis zu den Ellenbogen mit feuchtem Ton beschmiert, beschattete ihre Augen mit der Hand und starrte angestrengt aufs Meer hinaus. Am Horizont war undeutlich ein Fetzen von Weiß zu erkennen, wie die Flügelspitze einer tauchenden
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