Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Erschöpfung zu spüren. Aber sie konnten auch zu tanzen aufhören. Zwei Fremde konnten einander in die Arme sinken und die Große Schlange hinter sich lassen. Sie konnten an den Strand gehen oder in eines der Häuser, das speziell für diesen Zweck offenstand und mit Blumenketten und Büscheln grüner Blätter gekennzeichnet war. Zwei Fremde, die sich nie zuvor begegnet waren und die sich vielleicht niemals wiedersehen würden, konnten zusammen weggehen und die Lust miteinander teilen, weil die Göttin sie zusammengeführt hatte. Dies wurde allgemein akzeptiert und verstanden und sogar erwartet.
Mehr Gesichter trieben an Marrah vorbei. Weitere Umarmungen und Küsse. Niemand war in Eile, und die Trommeln dröhnten unaufhörlich weiter. Der Tag wurde heiß und dann kühler, und die Schatten wurden länger, aber Marrah nahm nicht mehr wahr, wie die Zeit verging. Sie konnte ihren neuen Körper fühlen, konnte fühlen, wie sich ihr langer, geschmeidiger Schlangenkörper durch die Stadt Itesh ringelte. Jeder menschliche Kopf der langen Schlange von Tanzenden war eine Schuppe, jedes Paar Füße ein Muskel. Die Schlange liebkoste die Häuser; sie hob ihren großen Kopf und ließ ihre feine, gespaltene Zunge hervorschnellen, um die salzige Luft zu genießen.
Ein Mann nahm Marrah in seine Arme und küßte sie. Auch er hatte dunkle Augen, aber sie waren gesprenkelt mit Lichtpünktchen von der Farbe des Steins, den ihr die Priesterinnen von Nar geschenkt hatten. In den gelben Lichttupfern war kein Schmetterling eingeschlossen, doch er sah wie ein freundlicher Mann aus. Behutsam löste er Marrah aus der Schlange der Tänzer, und behutsam führte er sie zum Rand der Tanzfläche. Sie lehnten sich gegen eine Mauer und tauschten noch ein paar Küsse, während sich die Schlange vorbeiwand. Der Mann war nicht sehr groß, genauso groß wie sie, mit starken Händen. Eine Maske aus Rebhuhnfedern baumelte von einer Schnur um seinen Hals. Und als Marrah ihn küßte, erkannte ein Teil ihres Ichs, daß er Mitglied der Gemeinschaft war, die Feste organisierte.
Der Giraner strich ihr sanft das Haar aus den Augen, und sie berührte sein Gesicht zart mit den Fingerspitzen. Ja? fragten seine Augen, denn selbst jetzt, selbst in einem Zustand, in dem sie von der Ekstase der Göttin erfüllt waren und nicht so recht wußten, wo sie waren oder wie sie hießen, würde er niemals vergessen, um Erlaubnis zu fragen. Selbst jene, die Marrah in der Menge geküßt hatten, hatten zuerst gefragt, mit einem Wort, einer hochgezogenen Braue, einer Geste.
Ja, nickte sie. Der Giraner küßte sie erneut und führte sie dann zu einem Haus, das mit Girlanden aus frischen Blumen und einem Büschel grüner Lorbeerblätter gekennzeichnet war. Im Inneren war es dunkel, aber durch die offene Tür konnte sie einige weiche Lagerstätten sehen und mehrere Paare, die einander fest umschlungen hielten und bereits dabei waren, die Lust zu teilen. Sie wandte den Blick ab, um ihre Privatsphäre nicht zu stören.
Der Giraner führte Marrah zu einem Lager in der gegenüberliegenden Ecke und begann, Liebe mit ihr zu machen. Er war sehr behutsam, sehr zärtlich. Danach schlief Marrah ein, und als sie aufwachte, war der Fremde verschwunden, und es war dunkel, aber die Trommeln dröhnten noch immer, und der Schlangentanz ging unvermindert weiter.
Eine Weile saß Marrah in der offenen Tür des Hauses und schaute den Tänzern zu. Als die Sonne unterging, verteilte die Festgemeinschaft Fackeln. Die Große Schlange war jetzt ein sich windendes, schlängelndes Band von Licht, das vom Fluß bis hinunter zum Meer reichte. Schatten flackerten auf den Wänden der Häuser, zuckten vor und zurück zum Schlag der Trommeln. Es war, als hätte sich eine zweite Schlange, eine Schlange aus Schatten, der ersten angeschlossen. Von Zeit zu Zeit fiel das Licht der Fackeln flüchtig auf ein Gesicht, von einem ekstatischen Lächeln erhellt, oder auf ein Paar Augen, die Marrah anblickten, ohne sie wahrzunehmen.
Die Trommeln fuhren fort, nach ihr zu rufen, sie zum Mitmachen aufzufordern, aber sie verspürte nicht länger den Wunsch zu tanzen. Sie fühlte sich vollkommen entspannt und von innerem Frieden erfüllt.
Die Zeit verstrich. Schließlich rappelte Marrah sich auf und machte sich auf den Weg zurück zum Tempel. Als sie von der tanzenden Schlange wegstrebte, verlief sich die Menschenmenge allmählich, und sie traf auf Familien, die in den Durchgängen zwischen den Häusern schliefen. Kleine
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