Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
saftige dunkelrote Trauben und Kuchen, der vor Honig nur so troff.
Wie üblich bereiteten die Dorfbewohner Marrah und Arang einen herzlichen Empfang und verbeugten sich ehrfurchtsvoll beim Anblick ihrer Pilgerhalsketten, aber an jenem Nachmittag stand Stavan im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – und diesmal nicht deshalb, weil er gelbes Haar und blaue Augen hatte. Die Dörfler schienen kaum Notiz davon zu nehmen, daß er anders aussah, aber als Arang ihnen stolz erzählte, daß Stavan ebenfalls ein Aita war, nahmen ihn die Männer an der Hand und führten ihn lachend zur Feuerstelle, wo sie ihn auf einen Stapel daunengefüllter Kissen setzten und ihm einen Becher gegorenen Honigsaft überreichten.
»Unsere Göttin muß dich zu uns geschickt haben, damit auch du geehrt wirst«, erklärten ihm die Dorfmütter, während sie ihm Girlanden aus gelben und roten Blumen um den Hals hängten. Sie legten ihre Fingerspitzen zusammen und verbeugten sich feierlich vor ihm, als wäre er ein heiliger Götterbote in Menschengestalt, und dann küßte ihn die älteste Frau zur Begrüßung auf die Lippen.
Nachdem dies erledigt war, ging das Fest auf die gewohnt lärmende, chaotische Art weiter: Trommeln dröhnten, Hunde bellten, Leute klatschten im Rhythmus der Trommeln in die Hände, die Gemeinschaft der Kinder sang ein Lied über die Güte und Freundlichkeit der Aitas, und jedermann stimmte in den Chor ein, ob er nun singen konnte oder nicht.
Eines nach dem anderen traten die Kinder vor, um den Männern zu danken, die sie aufgezogen hatten, während sie ihren Aita auf die Wange küßten und Blumen zu seinen Füßen niederlegten. Jemand drückte Arang einen großen Strauß süß duftenden Geißblatts in die Hand, um ihn Stavan zu überreichen, was er dann auch tat. Er stotterte zwar leicht vor Verlegenheit, doch sämtliche Dorfbewohner applaudierten fröhlich, als er seine Arme um Stavans Hals schlang und ihn küßte.
Nachdem alle Aitas von ihren Kindern geehrt worden waren, tanzten die Mütter der Kinder für sie und sangen weitere Lieder, wünschten ihnen Glück und ein langes Leben. Schließlich tanzten die Aitas selbst.
Und zum Schluß kam die Reihe an Stavan. Er versuchte zwar, sich zu drücken, und bat darum, man möge ihm die Darbietung erlassen, aber die Dorfbewohner wollten nichts davon hören.
»Du mußt tanzen«, erwiderten sie beharrlich. »Alles in unserem Dorf tanzt. Die Blumen tanzen im Wind, die Wellen tanzen auf dem Fluß, die Vögel tanzen über uns, und die Göttin tanzt um uns herum. Wie kannst du da nicht tanzen?«
Lachend und kopfschüttelnd gab Stavan schließlich nach. »Aber ich warne euch: Mein Volk tanzt nicht so gut wie eures.«
»Tanz endlich! « riefen sie. »Rede nicht, tanz einfach! «
Und so tanzte Stavan. Hüpfend und mit den Armen rudernd, bewegte er sich zum Takt der Trommeln, doch nicht mit der fließenden Anmut der Dörfler, sondern mit der wilden Energie eines Hansi-Kriegers. Und dennoch war der Tanz, den er zeigte, kein Hansi-Tanz. Marrah wußte dies, denn er hatte ihr einmal vorgeführt, wie die Hansi tanzten, damals in Lezentka, als sie anfingen, sich besser kennenzulernen. Er hatte es nicht tun wollen, doch sie hatte so lange gebettelt und ihn geküßt und sein Haar zerzaust, bis er nachgab. Danach hatte sie es bereut. Die Hansi tanzten ohne Freude, mit einem Speer in der einen Hand und einem Dolch in der anderen. Sie sprangen im Rhythmus der Trommeln vor und zurück, stachen auf einen imaginären Gegner ein und duckten sich, um dem Gegenangriff auszuweichen, während sie so taten, als kämpften sie gegen ihre Feinde und versuchten, sie zu töten. Es war ein furchteinflößendes Spektakel, eines, das zu wiederholen sie Stavan niemals mehr gebeten hatte.
Stavan mußte erkannt haben, daß er die Dorfbewohner nur aufregen würde, wenn er nach Art seines Volkes tanzte, und deshalb beschloß er, der gewöhnlich so geschmeidig und anmutig war, statt dessen unbeholfen zu sein. Statt elegante Sprünge zu vollführen und sich wild zu drehen, um einen imaginären Gegner anzugreifen, tanzte er nach keinem speziellen Muster, stolperte manchmal tolpatschig, wenn er aus dem Takt kam, und fuchtelte dabei mit den Armen auf eine Art, die ein bißchen albern wirkte, aber auf keinen Fall bedrohlich. Er tanzte nicht sehr lange, und als er geendet hatte, lächelte er und verbeugte sich vor den Zuschauern, die jubelten und ihm Blumen zuwarfen, offensichtlich begeistert. Marrah konnte sehen, daß nicht
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