Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
verteidigen könnten. Aber andererseits haben diese Leute hier keine Feinde, nicht? Sie bauen einfach ihre Häuser, wo immer der Boden am besten für den Anbau von Weizen und Gemüse geeignet ist, und sie verschwenden niemals einen Gedanken an die Tatsache, daß sie von allen vier Seiten angreifbar sind.«
Manchmal, wenn ein Dorf auf einem Stück Flachland lag, das in den Fluß hinausragte, lachte Stavan ungläubig. »Also, eine Hansi-Kriegertruppe könnte dieses Dorf so schnell erstürmen, daß die Bewohner niemals wissen würden, wer oder was sie überwältigt hat! Aber das wird niemals passieren, weil mein Volk keine Ahnung davon hat, daß solche Dörfer existieren. Danke deiner süßen Göttin dafür, Marrah, und bete, daß sie es niemals herausfinden.«
Marrah pflegte dann nur einen Blick auf das Dorf zu werfen und den Mund zu halten. Sie war häufig in Versuchung, ihm von der Prophezeiung zu erzählen, besonders wenn er sich weiter darüber ausließ, wie völlig schutzlos diese Dörfer dalagen, aber die Vision, die ihr gewährt worden war, als sie das Brot der Dunkelheit gegessen hatte, war heiliges Wissen, das sie nur mit einer anderen Priesterin teilen durfte. Trotzdem hatte sie oft ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm den Grund ihrer Reise verschwieg. Sie liebte Stavan und vertraute ihm, und wenn man jemanden liebte, war es hart, ihn in die Stadt seiner eigenen Mutter zu bringen und ihn dort als Beispiel für die bösen Menschen zu präsentieren, die kommen würden, um die Stadtbewohner zu töten und ihre Tempel niederzubrennen – es sei denn, man sagte ihm klipp und klar, was ihm bevorstand. Doch ganz gleich, wie sehr sie ihn liebte, ihre Pflicht gegenüber ihrem eigenen Volk stand an erster Stelle. Das eine, was eine Priesterin niemals tat, war, ein einmal gegebenes Versprechen zu brechen, besonders nicht ein Versprechen, das man der eigenen Mutter gegeben hatte.
Obwohl Marrah ihm nicht alles sagen konnte, standen sie sich sehr nahe. Da sie Tag für Tag zusammen waren, unterhielten sie sich endlos lange, bis sie überzeugt war, fast soviel über das Grasmeer zu wissen wie Stavan. Später sollte Marrah entdecken, daß er ihr eine Anzahl von Dingen aus Freundlichkeit und Rücksichtnahme vorenthalten hatte, aber im Moment wäre sie niemals auf die Idee gekommen, daß auch er Geheimnisse hatte.
Im Laufe der Reise begann sich Stavan mehr und mehr wie ein Mann ihres eigenen Volkes zu benehmen, ja sogar wie einer von ihnen auszusehen. Nicht lange, nachdem sie den Rauchfluß erreicht hatten und sich einer Gruppe von Händlern anschlossen, die flußabwärts reiste, schnitt Stavan seinen Bart ab und tauschte seine verfilzte Pelztunika und die Stiefel gegen Sandalen und einen Leinenkilt von der Art, wie ihn die einheimischen Männer trugen. Die Sonne hatte seine Haut tiefbraun gefärbt, und wären nicht sein helles Haar und seine blauen Augen gewesen, hätte man ihn für einen Händler halten können, der mit ein paar sonderbaren Messern, einem fein gearbeiteten Köcher und einem fremdartigen Bogen nach Osten reiste, um sie gegen seltene Kräuter und ein paar Krüge guten Weins einzutauschen.
Und so vergingen die Tage, und zu Marrahs und Stavans Liebe kam eine enge Freundschaft hinzu. Wenn der Fluß breit war und träge dahinfloß, sprangen sie vom Einbaum aus ins Wasser und forderten Arang zum Mitmachen auf. Lachend und spritzend erfanden sie Spiele, um sich die Zeit zu vertreiben. Arang spielte am liebsten Fangen, wobei er so schnell wegschwamm, daß ihn niemand einholen konnte, aber wenn sie miteinander wetteiferten, wer am längsten unter Wasser bleiben konnte, war Marrah fast immer Siegerin. Stavan dagegen war eindeutig der ausdauerndste Schwimmer von ihnen.
Danach, wenn sie der Spiele überdrüssig waren, saß er neben Marrah im Boot, einen Arm um ihre Taille gelegt, und sie beobachteten gemeinsam, wie das Herz der Welt vorbeizog, Dorf für Dorf. Wenn ihr Haar fast wieder trocken war, pflegte Stavan es zu kämmen, bis es glänzte und schimmerte, oder er zog sein Messer hervor und schnitzte kleine Pfeifen für Arang, doch meistens saßen sie nur still da und genossen die Gesellschaft des anderen.
Gegen Mittag, wenn die Hitze fast unerträglich wurde und selbst die Schatten zu flimmern schienen, ruderten die Händler die Einbäume häufig zu irgendeinem schattigen Platz um Ufer, um ihr Mittagsmahl einzunehmen. Alle zogen ihre Kleider aus, um ein weiteres Bad im kühlen Fluß zu nehmen, und anschließend
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