Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Göttin, die dich beschützt!« murmelte er glücklich. »Du warst sehr krank, aber du wirst wieder gesund.«
Marrah hatte noch eine Frage an ihn, doch sie war sich nicht sicher, ob sie die Antwort ertragen konnte. Sie streckte eine Hand aus und berührte die Göttin Erde, und ihre Finger zitterten. »Lebt Arang? «
»Ja«, erwiderte Stavan. »Aber er war sehr krank. Ich mußte ihn die ganze letzte Nacht ins Flußwasser halten, um ihn abzukühlen. Heute morgen ist sein Fieber gesunken. Er hat etwas Brühe getrunken, und jetzt schläft er.«
»Möge die Göttin dich segnen, Stavan! Du hast uns beiden das Leben gerettet.«
»Sag das nicht«, bat er verlegen, aber sie hörte ihn kaum. Sie war zu glücklich.
»Ich möchte Arang sehen.« Sie versuchte, auf die Füße zu kommen, doch ihre Beine gaben unter ihr nach. Stavan fing sie auf, hob sie hoch, trug sie zu Arangs Lager und legte sie neben ihn auf die Felle. Sie nahm Arang in die Arme und schmiegte sich an ihn. Als sie aufwachte, saß Arang neben ihr und bat Stavan, ihm etwas zu essen zu bringen.
Beide erholten sich rasch von der Krankheit, und wenige Tage später waren sie wieder auf dem Fluß und ruderten in Richtung Süßwassersee, als wären sie niemals an der Schwelle des Todes gewesen. Der einzige Unterschied war, daß die Händler und Stavan ein wenig härter paddeln mußten, wenn sie auf Gegenströmungen trafen, da Marrah und Arang noch zu schwach waren, um viel mehr zu tun, als im Boot zu sitzen und die Welt vorübergleiten zu sehen.
Obwohl das Fieber bald nur noch eine Erinnerung war, hatte es eine unerwartete Einsicht zur Folge. Vor ihrer Krankheit war Marrah überzeugt gewesen, die vier Händler wären die unhöflichsten Leute auf der Welt, aber es stellte sich heraus, daß sie ihnen Unrecht getan hatte. Nicht nur, daß sie die ganze Zeit über geblieben waren, um sicherzugehen, daß sie und Arang wieder gesund wurden – sie waren auch überhaupt nicht feindselig, nur extrem schüchtern.
»Wir dachten, du wärst so wichtig wie die Göttin selbst«, erklärte eine der jüngeren Frauen Marrah in gebrochener Alter Sprache. »Aber nachdem wir jetzt gesehen haben, daß du und dein Bruder wie ganz gewöhnliche Leute krank werdet, fürchten wir uns nicht mehr so vor dir.« Sie verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, das zwei Zahnlücken enthüllte, und versetzte Marrah einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. »Wir sind alle heilfroh, daß du nicht gestorben bist, Mädchen, aber dein Haar ist wirklich eine Katastrophe. Ich habe ein hübsches blau-weißes Tuch in meinem Korb, das ich zum Süßwassersee bringen wollte, um es gegen Muscheln einzutauschen. Wenn wir heute abend Rast machen, kann ich vielleicht etwas tun, damit du weniger kahlköpfig aussiehst.«
Marrah faßte dies als die freundliche Bemerkung auf, als die es offensichtlich gemeint war, und bedankte sich höflich. Ein paar Minuten später stimmten die Händlerin und ihre Schwester ein lautes Flußlied an, während sie den Rhythmus mit ihren Paddeln schlugen, und danach gab es kaum noch einen Moment, in dem die vier nicht entweder sangen oder in ihrer eigenen Sprache miteinander scherzten.
An diesem Abend saß Marrah am Flußufer, das blau-weiße Tuch um den Kopf gebunden, und beobachtete zwei Graureiher, die im flachen Wasser auf- und abstakten und Kaulquappen fingen, als Stavan zu ihr kam und sich neben sie setzte. Es war ihre liebste Tageszeit, die besinnlichen Stunden zwischen Abendessen und Sonnenuntergang, wenn die Farben zu verblassen begannen und die Luft kühl und lieblich wurde. Er legte einen Arm um ihre Schultern, und gemeinsam beobachteten sie schweigend die Vögel, bis die Sonne unterging und die Reiher kaum mehr als graue Schatten gegen den dämmrigen Himmel waren. Schließlich begann Stavan zu sprechen.
»Ich habe nachgedacht.« Er klang bedrückt und müde. »Nachgedacht? Worüber? «
»Was passieren wird, wenn wir endlich in Shara ankommen.« Er nahm ihre Hand. »Erinnerst du dich an die Dinge, die du mir erzählt hast, als du so krank warst? «
»Nein, nicht wirklich.« Sie dachte zurück an die Tage des hohen Fiebers; sie konnte sich noch vage an Stavans Gesicht erinnern, wie er sich besorgt über sie beugte, an den Schock des kalten Flusses, an die Art, wie sie Arang festgehalten hatte, um seine Seele daran zu hindern, seinen Körper zu verlassen, aber im großen und ganzen war es alles ein Durcheinander wirrer Bilder und böser Träume, umgeben von langen,
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