Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
darauf ruderten sie um eine Biegung im Fluß, und das Dorf Sebol verschwand aus ihrem Blickfeld.
An diesem Abend, als sie am Flußufer saßen und den Käse und das Brot verzehrten, das ihnen die Dorfbewohner mitgegeben hatten, sagte Stavan etwas, woran Marrah sich erst wieder erinnerte, als es längst zu spät war. »Weißt du«, begann er nachdenklich, »dieser Frau fehlte noch etwas anderes.« Als Marrah ihn fragte, was er meinte, zögerte er. Schließlich erklärte er gepreßt: »Es war nicht nur Ashishna, was sie hatte, wenn es überhaupt Ashishna war. Man hört nicht auf zu sprechen und zu essen, wenn man an diesem Fieber leidet. Sie hatte einen Ausdruck im Gesicht, den ich schon zuvor gesehen habe.«
»Wo?« wollte Marrah wissen.
Stavan behauptete, er könne sich nicht erinnern, aber sie hatte zum ersten Mal das Gefühl, daß er ihr absichtlich etwas verschwieg. Als sie in dieser Nacht neben ihm lag, fragte sie sich verwirrt, was es wohl war und warum er sich nicht darüber äußern wollte. Ich werde ihn noch einmal danach fragen, dachte sie, doch als sie sich zu ihm umdrehte, stellte sie fest, daß er bereits eingeschlafen war. Und am nächsten Morgen hatte sie ihre Zweifel vergessen.
Ein paar Tag später passierte etwas, was alle anderen Gedanken aus Marrahs Bewußtsein verdrängte. Die Schwierigkeiten fingen an, wie es Schwierigkeiten meistens an sich haben, nämlich so geringfügig, daß es zunächst nur wie eine nebensächliche Unannehmlichkeit erschien.
»Ich habe Kopfschmerzen«, beklagte sich Arang. Es war heiß und schwül. Sie hatten wie gewöhnlich Rast eingelegt, um ihr Mittagsmahl einzunehmen, aber alle schienen sich nicht ganz wohl zu fühlen, besonders Marrah nicht, die eine verstopfte Nase hatte und die ersten Anzeichen von Halsschmerzen fühlte. Das Standardheilmittel für Kopfschmerzen war, einen großen Krug Wasser zu erwärmen und seine Hände hineinzutauchen, aber Marrah fühlte sich nicht in der Verfassung, um die Händler zu überreden, einen ihrer Weinkrüge zu leeren, und so bereitete sie statt dessen einen Becher Brühe für Arang, indem sie Dörrfleisch in kleine Stücke schnitt und es mit einer Handvoll Wildkräuter und einer Prise Salz kochte.
Die Händler, mit denen sie um Shemsheme gewandert waren, hatten sie inzwischen in die Obhut einer anderen Gruppe übergeben, die zum Süßwassersee reiste. Die neuen Händler waren nicht annähernd so freundlich oder so lustig wie die alten. Sie sangen kein einziges Mal oder richteten sich im Boot auf, um den Leuten am Ufer zuzuwinken, und wenn sie im Fluß badeten, taten sie es ernst, ohne zu lachen und sich gegenseitig übermütig naß zu spritzen. Sie waren zu viert: eine Mutter, ihre beiden ältesten Töchter und ein Mann, der entweder der Partner einer der beiden Töchter war oder ihr Vetter, was Marrah jedoch nicht genau herausfinden konnte. Sie kamen aus einem kleinen Dorf weit im Norden des Rauchflusses, und sie sprachen einen fremden Dialekt, den nur sie selbst verstanden. Gelegentlich fielen sie in gebrochene Alte Sprache, aber nur dann, wenn es keine andere Möglichkeit für sie gab, sich verständlich zu machen.
Meistens kommunizierten sie durch Gesten, indem sie Stavan und Marrah mit einer Handbewegung bedeuteten, das Ruder zu übernehmen, oder aufs Ufer zeigten, wenn sie Rast einlegen wollten, oder indem sie einen Armvoll Feuerholz zu ihren Füßen niederfallen ließen, wenn es Zeit fürs Essen wurde. Irgendwie waren Marrah, Stavan und Arang zu den Hütern des Lagers geworden, und obwohl Marrah wußte, daß dies nur gerecht war, ärgerte es sie doch ein wenig, daß die Händler offensichtlich von ihren Gästen erwarteten, daß sie kochten, aufräumten und sich um die Feuer kümmerten. Schlimmer noch, sie hatten die seltsame Angewohnheit, nicht aus einem gemeinschaftlichen Topf zu essen. Statt dessen schöpften sie ihr Essen in spezielle Tonschalen, die sie an ihren Gürteln trugen, und gingen fort, um für sich allein zu essen, was Marrah eindeutig unhöflich fand.
Vielleicht war sie aufgrund ihrer Pilgerhalskette zu lange bevorzugt behandelt worden, oder vielleicht wurde sie auch einfach nur ungeduldig, weil ihr Ziel in greifbare Nähe gerückt war; auf jeden Fall war Marrah reizbarer als gewöhnlich. Das Paddel schien an diesem Morgen schwerer als sonst in ihren Händen zu liegen, die Strömung schien stärker, die Händler unhöflicher und die Sonne unerträglich heiß.
Nachdem sie Arang die Brühe gekocht hatte,
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