Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
überschlugen sich förmlich. »Ich habe die ganze Zeit nicht schlafen können, als du und Arang krank gewesen seid. Nacht für Nacht habe ich schlaflos dagelegen und mir Sorgen gemacht, und ausnahmsweise einmal hat sich die Grübelei gelohnt. Ich habe einen Plan, um dein Volk zu retten, und ich glaube, er wird funktionieren.«
Er zeigte erneut auf die Boote, die sanft im Fluß schaukelten. »Morgen oder übermorgen werden wir den Süßwassersee erreichen. Du und Arang werdet in südlicher Richtung nach Shara wandern, aber ich werde nach Norden gehen, zurück zum Grasmeer, und meinen Stamm finden, bevor der Winter kommt.« Marrah wollte protestieren, aber er bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihn fortfahren zu lassen.
»Es wird nicht leicht sein, die Steppe zu Fuß zu durchqueren, doch mit ein bißchen Glück werde ich von irgendeinem Unterhäuptling, der meinem Vater einen Gefallen schuldet, ein Pferd bekommen. Ich bin ein guter Fährtenleser, und ich kenne die Stellen, an denen die Hansi gewöhnlich ihr Lager aufschlagen. Wenn ich vor meinem Vater trete, werde ich mich vor ihm verbeugen wie ein gehorsamer Sohn und ihm die schlechte Nachricht überbringen: daß Achan ums Leben gekommen ist auf der Suche nach Hans goldenen Zelten. Achan war der einzige legitime Nachkomme meines Vaters; er wäre der Große Häuptling aller Hansi geworden, wenn er gelebt hätte, und wenn ich seinen Tod verkünde, werden die Frauen schreien und jammern. Mein Vater wird seine Kleider zerreißen und sein Gesicht mit Asche beschmieren und die Götter dafür verfluchen, daß sie mich lebend zurückkehren lassen, während Achan in einem fremden Land im Grab liegt. Er wird wissen wollen, ob ich Han die entsprechenden Opfer dargebracht habe, um Achans Seele Frieden zu verschaffen, und ich werde lügen und sagen, ja, ich hätte alles Erforderliche getan, weil ...«
Er hielt inne. »Nun, das ist eine andere Geschichte, eine, die wir nicht zu vertiefen brauchen. Es genügt, wenn ich sage, daß Achan mehrere Konkubinen hatte, die überglücklich sein werden, wenn sie erfahren, daß die wichtigsten Bestattungsopfer bereits dargebracht wurden, und mit etwas Glück wird Changar, unser Priester und Wahrsager, keine weiteren verlangen.«
Er hob die rechte Hand und begann, an seinen Fingern abzuzählen. »Nachdem ich die Botschaft überbracht habe, wird es Spiele zu Ehren des Toten geben, Pferdeopfer und eine sechsmonatige Trauerzeit. Bis mein Vater seinen zerrissenen Umhang abgelegt und die Trauerasche von seinem Körper gewaschen hat, wird es Frühling sein, und dann kann ich zu dir zurückkommen, aber in der Zwischenzeit werde ich ein großer Geschichtenerzähler werden, ein Poet, der eurer Gedenklieder würdig ist. Ich werde meinem Volk von meinen Abenteuern im Westen erzählen und von den Gefahren, die dort drohen. In meinen Geschichten wird der Westen jedoch kein grünes Flußtal sein, sondern ein dichter Wald voller bösartiger, krummbeiniger kleiner Wilder, die keine Städte, kein Gold, kein Vieh besitzen. ›Nach Westen gehen?‹ werde ich sagen. ›Kein Mann, der alle fünf Sinne beisammen hat, würde in die Richtung reiten. Es gibt dort wirklich nichts, was zu rauben sich lohnen würde.‹ Und dann werde ich auf den Boden spucken, als verfluchte ich den gesamten Ort, und düster und enttäuscht dreinblicken, wie es zu einem Mann paßt, der Jahre seines Lebens damit verschwendet hat, in einer Wildnis umherzuwandern, wo es nicht eine Frau gibt, die zu nehmen sich lohnt, und nicht ein einziges Pferd.«
Marrah schwieg lange Zeit. Während Stavan sprach, hatte sie sich flüchtig gefragt, ob er sie belog. Es wäre so leicht für ihn, ihr Volk zu verraten. Alles, was er tun mußte, war, zurückzukehren und seinem Vater zu erzählen, daß die Städte im Westen reich und völlig schutzlos waren. Aber dies waren nur die Gedanken eines kurzen Augenblicks. Sie kannte Stavan so gut, wie sie jemals irgendeinen Menschen gekannt hatte, und wenn er sie belogen hätte, hätte sie ihn durchschaut; wenn er auch nur teilweise unehrlich gewesen wäre, hätte sie es gespürt, so wie sie ein herannahendes Unwetter spüren konnte.
Als Stavan geendet hatte, war sie von seiner Aufrichtigkeit voll-kommen überzeugt. Es stand außer Frage, daß er ihr Volk retten wollte. Das einzige Problem war, daß sein Plan nicht klappen würde. Zumindest glaubte Marrah nicht an seinen Erfolg, und dies zu erkennen machte ihr angst; denn wenn sein Vorhaben scheiterte, welche
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