Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
dafür.
Sabalah sah den mißmutigen Ausdruck in Marrahs Augen und fühlte Mitleid mit ihr. Schließlich war sie selbst auch einmal dreizehn Jahre alt gewesen und wußte, wieviel dieser Tag einem jungen Mädchen bedeutete. »Komm jetzt«, sagte sie, als sie zu ihrer Tochter trat. »Die anderen wollten sich nicht über dich lustig machen. Sie sind nur erschrocken. Das sind wir alle.«
Die Dorfbewohner nickten jetzt mit ernsten Gesichtern, beschämt, daß sie gelacht hatten. Belaun kam zu Marrah, bückte sich und berührte den Sand zu ihren Füßen. Es war eine sehr förmliche Geste, eine Art, um zu sagen, daß die Person, die sie ausführte, bei der Göttin Erde selbst schwor.
»Es tut mir leid, ich wollte dich nicht auslachen, Marrah, Tochter von Sabalah. Ich ehre dich. Wir alle ehren dich, weil du das Leben dieses Fremden gerettet hast.«
Von der Menge stieg ein Murmeln der Zustimmung auf. Mehrere andere Dorfbewohner traten vor und machten dieselbe Geste. Und statt sich verspottet zu fühlen, war Marrah jetzt verlegen. »Ich habe doch nur getan, was ich tun mußte«, protestierte sie. »Ich habe nur das getan, was jeder von euch getan hätte.«
»Und das«, unterbrach Ama sie, »ist genau der Punkt.« Sie ging langsam vorwärts, und die Leute wichen zur Seite, um ihr Platz zu machen. Beim Anblick ihres weißen Haares senkte sich augenblicklich Schweigen über die Versammlung. Sie drehte sich um und blickte die Menge an. »Hört mir zu, alle miteinander. Sabalah hat Marrah gründlich unterwiesen. Marrah hilft instinktiv jenen, die Hilfe brauchen, und sie ist so bescheiden, daß sie glaubt, ihre Anstrengungen seien nichts Besonderes. Dieses richtige Handeln, das ist es, was die Göttin Erde von uns verlangt.«
Sie wies auf Marrah, deren Gesicht blutrot vor Verlegenheit war: »Heute ist dieses Mädchen nicht nur zur Frau geworden, sondern sie hat auch die heiligsten Pflichten einer Priesterin erfüllt. Wie ihr alle wißt, erteile ich gewöhnlich keine Befehle, aber jetzt gebe ich euch einen: Wir werden nicht zulassen, daß dieser Vorfall Marrahs Volljährigkeitsfeier ruiniert. Statt dessen werden wir sie doppelt ehren. Es ist traurig, diesen Fremden dem Tode so nahe zu sehen, aber Sabalah und ich werden uns um ihn kümmern. Und der Rest von euch soll feiern und singen und tanzen – Marrah zu Ehren. Heute ist sie nicht nur eine Frau, sie ist auch eine Heldin, und wir werden sie wie eine Heldin feiern.«
Zuerst zögernd und dann mit mehr Kraft begannen die Trommler den Rhythmus des Liedes zu schlagen, das sie gespielt hatten, als Marrah von der Insel zurückgekehrt war. Nach und nach fielen die Flötenspieler ein.
»Singt!« befahl Ama.
»Marrah hat ihre Kindheitskette zurückgelassen.
Sie hat sie Amonah gegeben. Sie hat die Muscheln zurück in den göttlichen Mutterschoß des Meeres geworfen, wo alle Muscheln entstehen.«
Bald sangen alle aus voller Kehle. Arang und die anderen Kinder traten vor und streuten bunte Blumen zu Marrahs Füßen, um einen Blütenpfad für sie zu machen, während sie vom Boot zu der Gemeinschaftsfeuergrube schritt.
»Willkommen daheim, Marrah. Willkommen daheim, liebste Schwester.«
Ama nahm Marrahs Hand. »Und jetzt geh«, sagte sie sanft, »und genieße den Tag.«
Marrah fühlte sich leicht benommen von dieser plötzlichen Wende der Ereignisse. Sie betrat den Blütenteppich und begann, zur Mitte des Dorfes zu gehen. Ungefähr auf halbem Weg dorthin, während die Dorfbewohner für sie sangen und ihr zujubelten und mehr Blumen zu ihren Füßen streuten, überkam sie plötzlich ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung und der Freude. »Danke«, flüsterte sie, und ihr Dank galt nicht nur Ama und ihren Freunden und Verwandten, sondern vor allem Amonah und Xori, die ihr einen so seltsamen und wundervollen Tag beschert hatten.
Als sie sicher war, daß es keine weiteren Störungen bei Marrahs großem Ehrenfest geben würde, gab Ama Anweisung, den Kranken in ihr Langhaus zu tragen und auf eine Pritsche vor einer der Hauptfeuerstellen zu betten. Nachdem sie und Sabalah ein großes Feuer in der Steingrube errichtet hatten, machten sie sich an die Aufgabe, dem Fremden die nassen Kleider auszuziehen, um ihn anschließend in Schaffelle zu hüllen und heiße Steine an seine Füße zu legen. Obwohl sie nicht wußten, was ihm fehlte, hatten sie beide schon Menschen gesehen, die so unterkühlt gewesen waren, daß es keine Möglichkeit mehr gab, um sie wieder zu erwärmen, deshalb
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