Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Web-stuhlgewichte und die Überreste von Brennöfen zu sehen.
Wenn das alles gewesen wäre, dann wäre es schon schrecklich genug gewesen, aber dies war erst der Anfang. Sie sahen noch andere Dinge an diesem Morgen, Dinge, so unaussprechlich grauenhaft, daß Marrah den Rest ihres Lebens niemals mehr daran denken konnte, ohne zu erschaudern. Shambah war nicht nur einem Feuer zum Opfer gefallen, es war auch überfallen und geplündert worden.
»Große Göttin Erde!« schrie die Kapitänin des Raspas entsetzt. »Was ist dies für ein Fluch! « Niemand antwortete. Akoah und ihre jüngere Tante hockten sich auf den Boden, schlugen die Hände vors Gesicht und begannen zu stöhnen. Arang vergrub sein Gesicht in Marrahs Kleid. Cyen und Nacah standen Seite an Seite und blickten reglos, wie zwei zu Stein erstarrte Gestalten, auf ihre Stadt. Und was Marrah betraf – für sie war der Anblick des brennenden Shambah schlimmer als ihre finsterste Vision.
Sie hätte kehrtmachen und fliehen sollen; sie alle hätten sich retten sollen, aber der Schock lähmte sie. Marrah trat einen Schritt vor, dann noch einen. Die anderen folgten, und bald standen sie inmitten dessen, was von der Stadt übriggeblieben war. Vor ihnen verliefen mehrere Straßen an verkohlten Gruben entlang, die einmal Häuser gewesen waren. Noch kurze Zeit zuvor waren dieselben Straßen sauber und glatt gewesen, mit kleinen weißen Steinen gepflastert. Die Bewohner von Shambah hatten jeden einzelnen Stein sorgsam in den sandigen Boden gesetzt, hatten Tausende von ihnen zu wunderschönen Mustern arrangiert. Man konnte auch jetzt noch Muscheln und Schmetterlinge und Blumen erkennen, aber wie alles andere waren sie schwarz vor Ruß.
Wie benommen wanderten sie durch die Trümmer. Überall waren Anzeichen von Kampf zu erkennen: zerbrochene Haushaltsge-genstände, zu schwelenden Haufen übereinandergetürmt; kopflose Statuen; eine Tempelrobe, in Fetzen gerissen und halb verkohlt. Die armen Hunde der Stadt waren getötet worden, genau wie ihre Artgenossen in dem Dorf im Norden getötet worden waren: die Kehlen aufgeschlitzt, die Schädel zerschmettert. Aber es gab noch Schlimmeres, noch viel Schlimmeres.
Als Marrah und ihre Gefährten durch das Zentrum gingen, fanden sie auch menschliche Leichen. Die Leute von Shambah waren auf furchtbare Weise gestorben. Alte Männer und Frauen lagen in den Straßen, in Stücke zerhackt. Babies mit eingeschlagenen Schädeln waren wie Abfall weggeworfen worden. Von den jüngeren Frauen oder Kindern war nichts zu sehen, bis auf die Leichen einiger junger Mädchen, aber als Marrah sah, was mit ihnen geschehen war, hielt sie Arang hastig die Augen zu und zwang ihn, sich abzuwenden. Ihre Leichen waren nackt und übel zugerichtet. Es gab noch nicht einmal eine Bezeichnung für das, was jenen Mädchen angetan worden war, aber es war unaussprechlich schrecklich, und es hatte ihren Tod verursacht.
Cyen und Nacah verloren den Verstand, als sie all diese Greueltaten erblickten. Weinend gingen sie von Leiche zu Leiche, während sie laut die Namen der Menschen riefen, die sie geliebt hatten, und die Toten anflehten zurückzukehren. »Geht nicht ohne uns zur Erdenmutter heim! « riefen sie. »Bitte, verlaßt uns nicht! « Haltlos schluchzend hoben sie Babies auf, wiegten sie in ihren Armen und wischten Blut und Asche von ihren Gesichtern.
Als Marrah die grausam ermordeten Kinder sah, erwachte sie abrupt aus ihrer Erstarrung. »Kommt mit zurück«, bat sie. »Laßt eure Toten liegen, wo sie sind. Es gibt jetzt nichts mehr, was wir noch für sie tun könnten.« Sie zog an den Kleidern der Männer und hielt sie am Arm zurück, und diesmal halfen ihr die verängstigten Seglerinnen, doch Cyen und Nacah leisteten Widerstand.
»Wir müssen unsere Verwandten bestatten«, widersprachen sie beharrlich. »Wir müssen ihre Körper auf die Türme des Schweigens legen, damit die Vogelgöttin ihre Seelen empfangen kann.« Sie bückten sich, hoben den Leichnam einer alten Frau auf und stolperten damit in Richtung Wald. »Dies ist der Körper von Königin Aimbah«, schrien sie verzweifelt. »Wie können wir sie hier einfach liegen lassen?«
»Im Namen der Göttin«, flehte Nacah, »laßt uns wenigstens meine Großmutter zur ewigen Ruhe betten.«
Und so gaben Marrah, Arang und die drei Frauen schließlich nach, in der Hoffnung, Cyen und Nacah würden wieder mit zum Boot zurückkehren, nachdem sie Königin Aimbahs Körper auf einen der Türme gelegt hatten, und
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