Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Wolfszähnen und anderen Dingen, die aussahen, als wären sie irgendwann einmal Tempelschmuck gewesen. Die meisten Anhänger bestanden aus Ton oder Kupfer, aber hier und da schimmerte auch ein Stückchen Gold. Wie Stavan war der Mann mit blauen Symbolen tätowiert, doch sie bedeckten seine gesamte Brust und Teile seines Gesichts. Seine Hände waren blutbefleckt, und auch sein Haar war stellenweise mit Blut durchtränkt. Er sah grausam und furchteinflößend aus, wie eine Art Tier, das gerade seine Beute erlegt und verschlungen hatte.
»Laß mich los! « schrie sie.
Der Mund des Mannes verzog sich zu einem häßlichen Lächeln, das eine Reihe schiefer Zähne enthüllte. Bedächtig begann er, seinen breiten Ledergürtel aufzuschnallen, an dem sein Köcher hing, aber noch bevor seine Finger die Knochenschnalle gelöst hatten, kam einer seiner Gefährten in einem Regen von Erdklumpen herbeigaloppiert. Der Mann zeigte auf Marrah und rief etwas in einer harten, gutturalen Sprache, die wie Hansi klang, obwohl sie die Worte nicht verstehen konnte. Der Krieger, der gerade seinen Gürtel hatte abnehmen wollen, blickte verärgert auf. Er sagte etwas zu dem Reiter – etwas Wütendes, dem Klang nach zu urteilen –, packte Marrah am Arm und zerrte sie auf die Füße. Immer noch vor sich hin schimpfend, zog er eine Lederschnur aus seinem Haar, riß ihr die Handgelenke auf den Rücken und band sie so fest zusammen, daß sie voller Schmerz aufschrie. Dann legte er seine flache Hand auf ihren Nacken und stieß sie in die Richtung des Neuankömmdings. Mit blauen Flecken übersät und hilflos schluchzend, stolperte Marrah vorwärts, so blind vor Tränen, daß sie kaum sehen konnte, wohin sie ging.
Der zweite Mann trug einen langen Speer, der fast bis zum Boden reichte. Er drückte mit der Speerspitze gegen Marrahs Rücken, während er sie zwang, vor ihm herzugehen. Jeder Schritt, den sie machte, war qualvoll, aber sie schien sich nichts gebrochen zu haben. Als sie über das Feld humpelte, sah sie Nacah, Cyen, die Kapitänin und eine der anderen Frauen mit ausgebreiteten Gliedern im Schlamm liegen. Alle vier sahen wie tot aus. Marrah war übel vor Angst und Entsetzen, aber zumindest war Arang nirgendwo in Sicht und auch Akoah nicht. Vielleicht war es ihnen irgendwie gelungen zu fliehen. Der Gedanke erfüllte sie mit neuer Hoffnung.
Der Reiter trieb sie auf den Wald zu und einen Pfad hinunter, der wahrscheinlich einst zu einer Stelle geführt hatte, wo die Leute von Shambah ihre Kleider wuschen. Jedesmal, wenn Marrah langsamer wurde, grunzte der Krieger einen rauhen Befehl und bohrte seine Speerspitze zwischen ihre Schulterblätter. Nach einer Weile konnte sie Rauch riechen – nicht den Rauch der brennenden Stadt, sondern den Rauch eines Lagerfeuers. Jemand briet Fleisch. Das Pferd mußte den Geruch ebenfalls gewittert haben, weil es einen seltsamen, hohen Laut von sich gab, und von weiter vorne war ein Geräusch als Antwort zu hören.
Plötzlich, ohne Vorwarnung, fing eine Frau an zu schreien. Der Schrei war anders als alles, was Marrah je zuvor gehört hatte. Sie erstarrte, wie gelähmt durch die grauenhaften, schrillen Scheie. Der Reiter grunzte nur und versetzte ihr einen ungeduldigen Stoß. Marrah blickte über ihre Schulter zurück und sah, wie er sie gleichgültig betrachtete. Die schrecklichen Schreie kümmerten ihn offensichtlich nicht. Anscheinend war er daran gewöhnt.
Marrah humpelte weiter, und die Schreie hörten so plötzlich auf, wie sie begonnen hatten. Sie überquerten den Fluß auf einer kunstvoll gearbeiteten Brücke, die ohne Zweifel das Werk eines shambanischen Schreiners war. Das Geländer war mit geschnitzten Göttinnensymbolen verziert; bunt bemalte Blumen und Weinreben rankten sich um ein Dreieck der Fruchtbarkeit, und hübsche kleine Schmetterlinge flatterten am Rand der Brüstung entlang. Marrah starrte darauf, als hätte sie noch nie in ihrem Leben eine Brücke gesehen. Sie schien bereits jetzt einer versunkenen Welt anzugehören.
Sie strebten weiter, am gegenüberliegenden Ufer entlang, wobei sie einem glatten, mit weißen Muscheln gepflasterten Weg folgten. Nach einer Weile kamen sie auf eine Lichtung. Früher einmal war sie mit Sternmiere bepflanzt gewesen, aber jetzt war alles so plattgewalzt, daß es wie ein schlammiger Teich aussah. Ein Feuer brannte im Zentrum der zertrampelten Fläche, und etwa ein Dutzend Krieger lagerte daneben und beobachtete, wie Fleisch auf einem hölzernen Bratspieß
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