Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
folgten ihnen zu dem Ort, wo die Leute von Shambah ihre Toten bestatteten – und sahen das Grauenvollste von allem: die jungen Männer.
Es waren vielleicht zweihundert, und sie waren nicht leicht gestorben. Die meisten waren stranguliert worden, aber die stärksten und besten hatte man bei lebendigem Leib auf die Pfosten der Türme des Schweigens aufgespießt.
Als sie das Massaker sahen, stießen Cyen und Nacah einen schrillen Schrei aus und ließen Königin Aimbahs Leichnam zu Boden fallen. Von Bestattungsriten war nicht länger die Rede. Sie flohen Hals über Kopf zurück durch die rauchenden Trümmer von Shambah in Richtung See, aber es war schon zu spät.
Sie liefen gerade an dem zerstörten Gerstenfeld vorbei, als Marrah plötzlich ein Donnern hinter sich hörte. Alarmiert blickte sie auf und sah drei Tiere aus dem Wald stürmen. Die Tiere hatten kurze Mähnen, muskulöse Beine, glitzernde Augen und Körper, mit kurzem, zotteligem Fell bedeckt. Auf ihren Rücken saßen nackte Männer – große, bleiche Männer mit gelbem Haar, das wie Totengebeine in der Sonne schimmerte.
»Lauft!« schrie sie, aber sie rannten bereits so schnell, wie ihre Füße sie trugen. Die Pferde preschten mit donnernden Hufen über das Feld, wirbelten ganze Wolken von Staub auf. Als sie näherkamen, stieß einer der Reiter einen ohrenbetäubenden Schrei aus, hob seinen Bogen und zielte auf die Kapitänin des Raspas. Ein Pfeil flog sirrend an Marrahs Ohr vorbei, und Sekunden später sah sie die Frau plötzlich wie ein verwundetes Reh in die Luft springen und dann zu Boden stürzen. Wie gelähmt vor Schreck beobachtete sie, wie ein anderer Reiter herangaloppierte, sich auf Nacah stürzte und ihn an den Haaren hochriß. Der Mann grinste breit, holte mit seinem Messer aus, und Nacah schrie gellend. Der Mann schrie ebenfalls, aber es war ein Triumphschrei. In seiner Hand hielt er etwas, das über und über mit Blut beschmiert war.
In dem Moment galoppierte der dritte Krieger an ihnen vorbei und riß sein Pferd blitzschnell herum. Das Tier bäumte sich auf, und Marrah sah zwei kräftige Beine und zwei große Hufe auf sich herabkommen. Schreiend fuhr sie herum und rannte davon, und der Mann verfolgte sie, trieb sie wie eine Kuh zum Rand des Feldes. Ihr Atem brannte in ihrer Brust, doch sie lief weiter, so schnell sie konnte. Jedesmal, wenn sie einen Haken zu schlagen versuchte, schnitt er ihr den Weg ab; jedesmal, wenn sie in eine andere Richtung zu fliehen versuchte, war er schon vor ihr da. Es war wie eine Art grausames Spiel. Schließlich stolperte sie, völlig erschöpft, über einen Stein, und als sie stürzte, beugte er sich herab, packte sie an den Haaren und zerrte sie hoch. Sie roch den widerwärtigen Körpergeruch des Mannes, sah sein grinsendes Gesicht, das mit Blut und Asche und gelben Linien bemalt war. Seine Augen hatten die gleiche Farbe wie Stavans, aber sie blickten kalt und verächtlich.
Marrah schrie aus voller Kehle und schlug mit beiden Fäusten auf ihn ein, und ihre Nägel kratzten über etwas. Ein dünnes Blutrinnsal erschien auf der Wange des Kriegers. Einen Moment lang blickte er verdutzt. Dann brüllte er voller Wut auf, warf Marrah zu Boden, sprang von seinem Pferd und begann, auf sie einzuschlagen und sie mit Fußtritten zu mißhandeln. Sie versuchte seine Schläge abzuwehren, aber es war unmöglich, sich gegen ihn zu verteidigen, und so lag sie weinend und fast besinnungslos vor Angst mit dem Gesicht im Schlamm, während er sie wieder und wieder schlug. Als er fertig war, rollte er sie mit der Fußspitze herum und spuckte auf sie, bevor er sein Messer aus dem Gürtel zog, die Klinge unter den Saum ihres Kleides schob und es mit einer einzigen raschen Bewegung vom Hals bis zu den Knien aufschlitzte, so daß sie nackt vor ihm lag.
Hastig bedeckte sie ihre Brüste mit den Händen und versuchte zu fliehen, aber er packte sie einfach an den Fußgelenken und zog sie so brutal zu Boden, daß es ihr den Atem verschlug. Keuchend und zu Tode erschrocken lag sie da. Sie hatte keine Ahnung, was als nächstes kam, außer, daß sie bald sterben würde. Später sollte sie herausfinden, daß ein schneller Tod gewöhnlich nicht das Schicksal war, das jungen Frauen im Krieg drohte, aber gnädigerweise wußte sie in diesem Moment nicht, was die Nomaden ihren weiblichen Gefangenen antaten.
Sie konnte jetzt erkennen, daß der Mann nicht nackt war, sondern einen ledernen Lendenschurz trug. Um seinen Hals hing eine Kette aus
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