Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Schal um den Kopf, der teilweise ihr Gesicht verhüllte. Der Schal war mit einer Art Stirnband aus rauhem, geflochtenem schwarzen Haar befestigt, das über der Stirn mit roten Troddeln geschmückt war. Wie die Männer trug sie geschnürte Lederstiefel, aber ihre waren mit Muscheln bestickt. Auch die Ärmel ihrer Tunika waren mit Muscheln und Perlen aus Kupfer und Ton bestickt, aber es war ihr Schmuck, der Marrah am meisten überraschte – Kette um Kette war um ihren Hals geschlungen, und die Anhänger klirrten leise wie winzige Glöckchen: einige aus Kupfer, einige aus Stein, andere aus Tierzähnen; sie trug auch Armbänder, drei Ringe in jedem Ohr und einen Ring an jedem Finger. Als wäre alles das noch nicht seltsam genug, waren ihre Augen mit schwarzer Farbe umrandet, ihre Wangen und Lippen waren mit rotem Puder bestäubt, und blaue Tätowierungen, so fein wie Weinreben, ringelten sich über ihre Wangen.
»Eine Priesterin! « rief Akoah erfreut und sprang auf die Füße. »Sie muß eine Priesterin sein! Wer sonst würde soviel Schmuck tragen? 0 Marrah, wir sind gerettet! Sieh dir die Farbe in ihrem Gesicht an, sieh den Medizinbeutel an ihrem Gürtel!« Marrah versuchte, sie am Arm zurückzuhalten, aber Akoah riß sich los und rannte vorwärts, während sie überschwengliche Begrüßungen rief.
»Heil dir, süße Priesterin, heil dir, liebe Mutter, die in ihrem Namen kommt! «
»Akoah, komm zurück! « bettelte Marrah. » Sie ist keine Priesterin, sie trägt Sonnensymbole , sie ist –« Aber die Warnung kam zu spät. Als sich Akoah der Tiermenschen-Frau näherte, trat der Krieger mit dem Narbengesicht zwischen sie, hob sein Knie und versetzte ihr einen derart harten Stoß, daß sie der Länge nach hinfiel. Dann trat er ohne einen weiteren Blick über sie hinweg.
Akoah lag flach auf dem Boden ausgestreckt, mit bläulich verfärbtem Gesicht. Ihre Lippen waren weiß, und sie schien nicht zu atmen. »Du Haufen Ziegenscheiße!« schrie Marrah dem Mann nach. »Was hast du ihr angetan?« Sie stürmte vorwärts, um Akoah aufzuhelfen, aber die Tiermenschen-Frau befahl ihr auf shambah, still zu sein. Verblüfft über den Klang einer Sprache, die sie verstehen konnte, blieb Marrah wie erstarrt stehen.
Die Frau und die Männer kamen näher. Der Mann mit der Narbe sagte etwas zu der Frau, und sie verbeugte sich und antwortete in ihrer Sprache. Die Männer tauschten einen zufriedenen Blick, verschränkten die Arme vor der Brust und traten zurück. Von dem Moment an hielten sie sich im Hintergrund, obwohl Marrah sich ständig bewußt war, daß sie sie wachsam beobachteten, mit grimmigen Mienen und bis an die Zähne bewaffnet.
Die Tiermenschen-Frau wandte sich an Marrah und verbeugte sich so tief vor ihr, daß die roten Troddeln über ihrer Stirn auf und nieder hüpften. »Ich begrüße dich in ihrem Namen, liebste Schwester«, sagte sie mit fester, liebenswürdiger Stimme. »Ich bin Dalish, Tochter der unglückseligen Nashish, möge ihre Seele Frieden bei der Erdenmutter gefunden haben. Sie und alle meine Verwandten wurden ermordet von diesen Haufen menschlicher Scheiße, die du hinter mir stehen siehst, die aber glücklicherweise zu dumm sind, um Shambah zu sprechen. Sie haben mich aufgefordert, für sie zu übersetzen, und mir eingeschärft, wenn ich ein Wort mehr sage, als absolut nötig ist, würden sie mich in kleine Stücke zerschneiden und den Krähen zum Fraß vorwerfen, aber im Laufe der Jahre ist es mir gelungen, ihnen einzureden, daß es zehnmal so lange dauert, etwas auf shambah zu sagen, als in ihrer eigenen häßlichen Sprache.«
Marrah war so überrascht über diese unerwartete Rede, daß ihr keine Antwort einfiel. »D-du bist eine von uns ?« stotterte sie.
Die Frau blickte leicht beleidigt. »Natürlich, der Göttin sei Dank. Sehe ich etwa aus wie eine von ihnen? Wäre ich in ihrem Volk geboren, wäre ich genauso hirnlos wie ihre Frauen. Oh, du wirst sie bald genug zu sehen bekommen, diese Nomadenfrauen mit ihren verdammten Schals vor dem Gesicht, die wie geprügelte Hunde herumschleichen und jedesmal eilfertig aufspringen, wenn ihr Ehemann oder Herr sie heranwinkt.« Sie straffte stolz die Schulter. »Aber ich wurde zur Priesterin ausgebildet. Als ich sechs war, weihte mich meine Großmutter der Vogelgöttin, und ich habe ihr vier wundervolle Jahre lang in ihrem Tempel gedient, bevor die Nomaden in mein Dorf einfielen, es zu Schutt und Asche niederbrannten und mich verschleppten.«
»Meine Freundin
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