Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
zu verehren. Dann erinnerte sie sich daran, daß auch dieser Ort Teil der Göttin Erde war, und ganz gleich, wie rauh er schien, er mußte einen Zweck erfüllen.
Es gab sogar Zeiten, da war sie gezwungen, zuzugeben, daß die Steppe genauso schön und faszinierend war, wie Stavan sie geschildert hatte. Während der ersten Wochen waren die Farben des Landes unübertroffen. Verstreut zwischen den hohen, trockenen Gräsern des Spätsommers, blühten die letzten Blumen der Saison wie die buntschillernden Teile eines Regenbogens. Wenn der Wind blies und die gefiederten Stengel hin und her schwankten, tanzten farbenprächtige Blüten zwischen den goldenen Ähren in einem schwindelerregenden, süß duftenden Reigen.
»Diese hier nennt sich Fasanenauge«, erklärte ihr Dalish eines Morgens und beugte sich von ihrem Pferd, um eine leuchtend orangefarbene Blüte zu pflücken. »Und die gelbe da drüben heißt Sonnenbutter. Die kleinen rosa Blüten sind Morgensterne, und die blauen heißen Babyaugen.« Als Marrah ihre Überraschung ausdrückte, erklärte Dalish, daß die Hansi Blumen als Frauensache betrachteten, was zweifellos ihre poetischen Namen erklärte.
Eine weitere Woche verging, die Ebene wurde trockener, und die Blumen verschwanden nach und nach. Bald gab es nirgendwo mehr Schatten, noch nicht einmal in den Schluchten; nur Gras, Staub und Fliegen. Manchmal prasselte Regen wie eine gläserne Wand vom Himmel und ließ sie halb ertrunken zurück, und einmal hagelte es so heftig, daß sie unter den Leibern der Pferde Zuflucht suchen mußten. Inzwischen gab es kein Holz mehr, um Feuer zu entfachen, deshalb aßen sie rohe Nahrung, einiges davon so ekelerregend, daß Marrah sich oft angewidert abwandte, selbst wenn ihr vor Hunger der Magen knurrte. Besonders verabscheute sie rohe Rinderleber, aber die Nomaden kauten die blutigen Stücke, als wären sie eine besondere Köstlichkeit. Rohe Ratten und gehäutete Feldmäuse verursachten ihr ebenfalls Übelkeit, aber bisweilen brachte sie es fertig, ein Stück von einem ungekochten Vogel, der sorgsam gerupft und gesäubert worden war, hinunterzuwürgen.
»Wenn sie in ihren Lagern sind, kochen sie über Feuern aus getrocknetem Dung und essen ordentliche Dinge wie gebratenes Hammelfleisch und Käse und die Zwiebeln, die wir Frauen ausgraben, und das wilde Getreide und die Kräuter, die wir sammeln«, sagte Dalish. »Aber Schlachttrupps wie diese brüsten sich damit, wie ein Rudel Wölfe zu leben. Sie essen, was immer gerade zur Hand ist, das meiste davon roh und häufig auch verdorben.«
Arang hielt sich die Nase zu und machte ein würgendes Geräusch, und Dalish kicherte. Insekten seien eine weitere Lieblingsspeise der Nomaden, warnte sie ihn, und wenn ihm einer der Krieger einen Grashüpfer gäbe, sollte er besser keine Grimasse schneiden. »Es ist eine große Ehre, und wenn du ihn nicht mit Beinen und allem Drum und Dran hinunterschluckst, als wäre er der beste Honigkuchen, der jemals aus dem Ofen deiner Mutter gekommen ist, wirst du gewaltigen Ärger bekommen. Übrigens, Grashüpfer schmecken gar nicht mal so schlecht, wenn sie geröstet sind. Die Nomaden essen sie, wie wir Nüsse essen. Es kann sogar sein, daß du nach einer Weile Geschmack daran findest.«
Sie lernten eine Menge Dinge von Dalish. Tag für Tag ritt sie neben ihnen her, während sie ihnen die Sprache der Hansi beibrachte, die seltsamen Bräuche der Nomaden erklärte und sie warnte, wenn sie im Begriff waren, etwas Gefährliches zu tun. Von Dalish erfuhren sie, daß die Nomadenfrauen im Frühling die Wolle sammelten, die die Schafe beim Fellwechsel verloren, die jedoch nicht gesponnen und gewebt, sondern gepreßt wurde, bis sie verfilzt war. Sie besaßen zwar ein paar kleine Webstühle, und manchmal webten sie aus Hanf und Pflanzenfasern Gürtel und Zügel für die Pferde, aber gepreßte Wolle war das, was sie das ganze Jahr über trugen. Oft wurde dieses Material, das sie »Filz« nannten, auf raffinierte Weise mit Perlen und Muscheln bestickt, aber ganz gleich, wie hübsch sie es dekorierten, Filz war niemals so angenehm auf der Haut wie Leinen.
»Er ist nicht nur schwer, er juckt auch fürchterlich«, beklagte sich Dalish, als sie sich am Ellenbogen kratzte.
Das Bearbeiten von Metall war eine weitere Technik, die die Nomaden nicht beherrschten. Laut Dalish waren die meisten der Kupferanhänger, die sie trugen, aus den Grenzdörfern gestohlen und später von Sklavinnen zu Sonnensymbolen umgearbeitet
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