Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
ebenso gut würde sehen können wie jeder andere, wenn er aufwachte, aber woher wußte sie das? Woher war dieses Wissen gekommen, und warum beunruhigte es sie derart?
Plötzlich schoß ihr ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf.
Vielleicht war der Fremde einer der Tiermenschen, die aus dem Osten kamen, um Marrah zu rauben. Aber das ergab doch keinen Sinn! Die Göttin Batal hatte ihr einen guten Blick auf die Tiermenschen verschafft. Es war eine grauenvolle Vision gewesen, die schlimmste in ihrem ganzen bisherigen Leben, und selbst nach vierzehn Jahren hatte sie kein einziges dieser Bilder vergessen. Die Tiermenschen waren so schnell wie der Wind gereist und hatten alles vernichtet, was ihnen über den Weg lief. Sie waren Ungeheuer mit sechs Beinen und zwei Köpfen, der eine menschlich und der andere der eines riesigen Tieres mit wild rollenden Augen, Schaum vor dem Maul und einer kurzen, steifen Mähne. Dieser Fremde hier hatte ganz eindeutig keine sechs Beine oder zwei Köpfe. Er war nur ein sonderbar aussehender Mann, der beinahe ertrunken wäre.
»Was ich nicht verstehe, ist, wo er alle diese Narben herhat.«
»Was?« Sabalah blinzelte, als Amas Stimme sie abrupt aus ihren Überlegungen riß. »Entschuldige. Ich war mit meinen Gedanken woanders.«
»Diese Narben«, wiederholte Ama. »Ich habe mich gefragt, was er getan hat, um in seinem Alter schon so viele Narben zu haben, besonders diese da – die ihn aussehen läßt, als hätte irgendein Wesen versucht, seine Eingeweide herauszureißen.« Sie zeigte auf die häßliche rote Narbe des Fremden, die quer über den oberen Teil seines Magens verlief. Auf seiner Brust und seinen Schultern waren weitere, ältere Narben zu sehen, die sich mit der Zeit weißlich verfärbt hatten, aber immer noch an den Rändern verzogen waren, als wäre der Schnitt sehr tief gewesen.
»Also, das einzige, was einem Mann solche Wunden zufügen könnte, wäre meiner Ansicht nach eine Bärin, die ihre Jungen verteidigt«, meinte Ama nachdenklich. »Aber wenn diese Narben von einer Bärin stammten, würden mehrere Linien zu sehen sein, wo sie ihm mit ihren Krallen die Haut aufgerissen hat, nicht nur eine lange Linie wie diese hier.«
Sabalah betrachtete die Narben, und plötzlich stieg ein ungutes Gefühl in ihr auf. »Ich denke, er wurde mit einem Messer verletzt«, sagte sie.
Ama nickte. »Genau das denke ich auch. Du erinnerst dich an dieses merkwürdige lange Messer, das er in seiner Scheide trug –das mit der scharfen Feuersteinklinge ? Eine solche Klinge würde genau diese Art von Narben bei einem Mann hinterlassen. Das wäre natürlich eine Möglichkeit; ich habe einmal von einer Frau gehört, die in einem Dorf in der Nähe von Hoza lebte, die mit einem Jagdmesser auf ihren Liebhaber einstach. Sie hatten sich wegen irgendeiner unglaublich dummen Sache gestritten – ob der Eintopf genug Rehfleisch enthielt, glaube ich –, und plötzlich griff sie in ihrer Wut nach dem Messer und stürzte sich auf ihn. Der Mann überlebte, aber die Frau wurde in die Verbannung geschickt. Ihre Leute schnitten ihr das linke Ohrläppchen ab, um zu zeigen, daß sie kein menschliches Wesen mehr war, und niemand wollte sie aufnehmen. Und einmal, vor langer Zeit, als ich noch ein Mädchen war, hatte ein Mann tatsächlich einen anderen Mann absichtlich getötet, als sie zusammen auf der Jagd waren – er schoß ihm einen Pfeil geradewegs durch den Hals und behauptete hinterher, er hätte geglaubt, es wäre ein Hirsch. Später gestand er seine Tat der Clanmutter des Toten, und sie hat ihn daraufhin lebendig begraben, was das Entsetzlichste ist, was jemals in meinem ganzen Leben passierte. Aber sieh dir die Narben dieses Fremden hier an.« Ama zeigte erneut auf die roten Linien.
»Ich kann mir wohl vorstellen, daß er einmal von jemandem angegriffen wurde, aber es sieht so aus, als wäre er Dutzende von Malen verletzt worden. Diese Narben hier sind nicht alle gleich alt. Was ist das für eine Welt, aus der er kommt, wo Menschen auf diese Weise mit Messern aufeinander losgehen? Weißt du das? Du bist von weiter her gekommen und hast mehr unterschiedliche Arten von Menschen gesehen als jeder andere, den ich kenne«, erklärte Ama. »Ergibt diese Art von Gewalt irgendeinen Sinn für dich?«
Sabalah schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe noch niemals von Menschen gehört, die sich gegenseitig mit Messern angreifen.« Doch noch im Sprechen spürte sie, daß ihre Worte nicht der Wahrheit entsprachen. Sie
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