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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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arbeiteten sie schnell und ein wenig grob, obwohl nicht ohne Mitgefühl.
    Als erstes entledigten sie ihn seiner Tunika, die feucht und steif vor Salzwasser war. Ama packte den Saum mit beiden Händen, zog ihm das Kleidungsstück über den Kopf und warf es in einem durchweichten Haufen auf den Fußboden. Jetzt, mit nacktem Oberkörper, entpuppte sich der Fremde als etwas ganz anderes als das, wofür sie ihn ursprünglich gehalten hatten.
    »Nanu, er ist ja gar nicht alt!« rief Sabalah überrascht.
    Ama nahm ein Stückchen seiner Haut prüfend zwischen Daumen und Zeigefinger. »Du hast recht«, erwiderte sie. »Wir haben es hier nicht mit einem alten Mann zu tun, sondern mit einem ausgebleichten Jungen. Leute über Zwanzig haben keine solche Haut wie diese.« Sie trat einen Schritt zurück, stützte die Hände in die Hüften und schnalzte mit der Zunge, um Überraschung, gepaart mit Mißbilligung, auszudrücken. »Aber es ist kein Wunder, daß Marrah verwirrt war. In all den nassen Kleidern und mit dieser greisenhaften Haarfarbe hat er einen passablen alten Mann abgegeben. Was meinst du, Sabalah, wie kommt es, daß sein Haar diese seltsam gelbe Farbe angenommen hat? Es ist die häßlichste Farbe, die ich jemals bei einem jungen Mann gesehen habe. Wenn ich solches Haar hätte, würde ich es mit Walnußextrakt färben.«
    »So häßlich finde ich sein Haar gar nicht.« Sabalah beugte sich über die Beinlinge des Fremden und begann an den feuchten Lederschnüren zu ziehen, aber die Knoten hatten sich im Salzwasser verhärtet und waren so geschrumpft, daß es eine mühselige Arbeit war. »Der arme Kerl kann ja nichts dafür, daß er mit diesem merkwürdigen Aussehen geboren wurde. Nachdem wir jetzt wissen, daß er noch jung ist, würde ich die Farbe seines Haares und Bartes eher mit der von Sonnenlicht vergleichen.«
    »Ha!« schnaubte Ama. »Die Farbe toter Knochen wäre zutreffender. Aber der Rest von ihm ist gut in Form. Sieh dir seine Brust an.« Der Fremde hatte eine kräftige Brust, breite, muskulöse Schultern, eine schmale Taille und gutproportionierte Glieder, und er hatte nicht ein Gramm Fett am Leib. Obwohl Ama Alter und Erfahrung bei Männern bevorzugte, wußte sie den Anblick eines jungen, starken Körpers in einem so exzellenten physischen Zustand durchaus zu schätzen. Außerdem bedeutete dies eine geringere Wahrscheinlichkeit, daß sie in naher Zukunft eine Bestattungszeremonie würde abhalten müssen. Mit einem solchen Körper konnte ein Mann einiges überleben, sogar eine Nacht an einem kalten Strand. Als sie sich den Fremden jetzt genauer ansah, erkannte sie, daß er höchstens achtzehn sein konnte – vermutlich eher um die Siebzehn. Natürlich war er so außergewöhnlich groß, daß man unwillkürlich auf den Gedanken kam, er müßte Jahre dazu gebraucht haben, um diese Größe zu erreichen, aber seine Haut war eindeutig die eines jungen Mannes.
    »Er ist vielleicht nicht alt«, sagte Sabalah. »Aber er ist blind.« Sie schob einen Fingernagel unter einen der Knoten und zog ihn so lange hin und her, bis er nachgab. »Zumindest glaubt Marrah das. Als du vorhin zum Holzholen draußen warst, hat sie Arang hergeschickt, um uns zu bestellen, daß der Fremde die Augen geöffnet hatte, während sie mit ihm beschäftigt war. Offenbar hat sich Marrah seine Augen genau angesehen. Sie wären ganz farblos, hat sie erzählt.«
    »Was du nicht sagst!« Ama runzelte die Stirn. »Das wird ja immer merkwürdiger.« Vorsichtig hob sie ein Augenlid des Mannes an. Ein blickloses, blaßblaues Auge starrte sie an.
    »Was meinst du?« Sabalah beugte sich näher. »Ist er nun blind oder nicht? «
    Ama zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich habe noch niemals etwas Derartiges gesehen. Vielleicht ist er ein Albino. Aber vermutlich werden wir das erst wissen, wenn er aufwacht. Falls er jemals aufwacht.«
    Sabalah nickte abwesend, ganz mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Natürlich wollte sie, daß der Fremde lebte, sonst hätte sie nicht ihr Bestes getan, um ihn aufzuwärmen, doch sie machte sich um mehr Sorgen als nur um die Aufgabe, ihn am Leben zu erhalten. Sein Anblick löste beunruhigende Gefühle in ihr aus –vage Erinnerungen, die sie nicht erklären konnte. Sie war sich fast sicher, früher schon einmal große Männer mit gelbem Haar und Bärten gesehen zu haben, doch sie konnte sich nicht erinnern, wo. Und diese hellblauen Augen – auch sie schienen irgendwie vertraut. Eine innere Stimme sagte ihr, daß er

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