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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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worden waren.
    Als die Pferde zur Stelle waren, stand Changar mehrere Augenblicke lang absolut reglos da. Vielleicht bewunderte er die Tiere, oder vielleicht sprach er zu einem seiner Götter. Jedenfalls war inzwischen klar, daß er eine wichtige religiöse Zeremonie vollziehen würde.
    Nach einer Weile näherte er sich den Pferden und begann, in ihrer eigenen Sprache mit ihnen zu reden, indem er leise wieherte und ihre zitternden Flanken streichelte. Die Augen der Pferde waren weit aufgerissen vor Angst, und einige von ihnen hatten die Ohren flach an den Kopf gelegt, aber unter der Berührung seiner Hand entspannten sie sich. Marrah war überrascht zu sehen, wie sanft er mit den Tieren umging. Er flüsterte ihnen Koseworte zu wie ein Liebhaber und sang ihnen vor wie eine Mutter.
    Aber seine Sanftheit war nur vorgetäuscht. Als die Pferde beruhigt waren, sagte er etwas mit leiser Stimme, und zwei der Sonnenkrieger traten vor und reichten ihm ihre Dolche. Es waren gefährlich aussehende Waffen mit Heften aus Kupfer und Knochenklingen, deren Schneiden aus Feuerstein bestanden. Changar steckte einen Dolch in die Erde – das Zeichen von Han, wie Marrah sich erinnerte. Den anderen packte er am Heft und hielt ihn dicht an seiner Seite, wo ihn die Pferde nicht sehen konnten.
    Danach wurden einige Gebete gesprochen und weitere Lieder gesungen, die eher ein monotoner, unheimlich klingender Sprechgesang waren, der Marrah eine Gänsehaut über die Arme kriechen ließ, aber lange Zeit passierte sonst nichts. Dann trat Changar plötzlich auf das erste Pferd zu und schlitzte ihm die Kehle auf. Bevor das arme Tier zu Boden gestürzt war – noch bevor Marrah Zeit fand, laut aufzuschreien, oder die Zuschauer Zeit hatten, um in Jubelrufe auszubrechen –, war er zum nächsten Pferd gegangen und hatte auch dieses getötet. Und so ging er weiter an der Reihe von Pferden entlang, bewegte sich so schnell, daß er zu fliegen schien, und jedesmal, wenn sich sein Dolch in Pferdefleisch bohrte, schoß eine Fontäne von Blut hervor. Die armen Tiere bäumten sich auf und schrien gellend und versuchten auszukeilen, aber sie waren gut gefesselt, und nicht ein einziges konnte entkommen. Als alle zehn im Staub lagen und langsam verbluteten, ergriff Changar den Schädeltrinkbecher und füllte ihn an ihren Kehlen, wie ein Mann, der einen Becher an einer Wasserquelle füllt.
    Alles in Marrah drängte danach, sich vom Anblick jenes blutgefüllten Bechers abzuwenden, aber sie konnte es nicht. Das einzige Tieropfer, das sie jemals gesehen hatte, war die Ziege gewesen, die Stavan auf dem Grab seines Bruders getötet hatte, aber das war nichts im Vergleich zu diesem hier gewesen. Es war das reinste Massaker; es war wie eine Wiederholung des Abschlachtens in Shambah, nur daß diesmal hilflose Pferde gestorben waren statt hilfloser Menschen.
    Marrah hatte das Gefühl, einen Einblick in die Herzen der Nomaden vermittelt zu bekommen, und was sie sah, machte sie krank vor Angst. Es hatte keinerlei Notwendigkeit bestanden, diese Pferde zu töten. Niemand war hungrig, niemand brauchte ihre Felle, um Kleidung herzustellen oder Zelte zu flicken. Zehn wunderschöne Tiere waren gestorben, qualvoll schreiend und von panischer Angst erfüllt, weil die Hansi glaubten, ihre Götter liebten es, diese Kreaturen leiden zu sehen. Wegen der schrecklichen Sünde, die sie in der Vergangenheit begangen hatten, hatten die Nomaden vergessen, daß die Erde ihre Mutter war und die Tiere ihre Brüder und Schwestern. Sie glaubten, sie wären ganz allein auf der Welt, und diese Einsamkeit hatte sie wahnsinnig gemacht.
    Der Wahnsinn jener Einsamkeit glühte in Zuhans Augen, als er den Schädelbecher aus Changars Händen nahm. Er war in seinem Gesicht, als er seinen eigenen Dolch zog, zwei flache Schnitte in seinen Oberarm ritzte und sein Blut mit dem der Pferde vermischte. Er war sogar in seinen Händen, als er den Becher an die Lippen hob, einen tiefen Schluck nahm und den Becher dann an Arang weiterreichte.
    Arang starrte voller Furcht und Ekel auf den blutigen Schädel. Er sah aus, als würde er sich jeden Moment übergeben, aber irgendwie zwang er sich, ihn an die Lippen zu heben. Marrah konnte es nicht ertragen, ihn trinken zu sehen. Dieses Mal schloß sie die Augen, und als sie sie wieder öffnete, war sein Mund rot verschmiert, und Changar kam mit verärgerter Miene auf ihn zu. Mit einem mißbilligenden Grunzen packte er Arangs Arm und schnitt ihm knapp unterhalb des

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