Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
der gewaltigen Stürme des Mittsommers, die von Süden her über das Land fegten, die Steppe ausdörrten und das Leben unerträglich machten, aber er war stark genug, um Zeltklappen flattern zu lassen und Lippen spröde zu machen, und als Marrah zwischen den Hansi-Frauen stand und zuschaute, wie ihr Bruder in den Stamm aufgenommen wurde, brannte der Wind wie heiße Asche in ihrer Kehle, und ihre Augen weinten ganz von selbst.
Es schien durchaus gerechtfertigt, daß sie an jenem Abend weinen sollte, auch wenn die Tränen nur vom Wind verursacht wurden und ihr Herz kalt vor Verzweiflung war. Es war ein unglaubliches Glück, daß Zuhan bereit war, Arang zu adoptieren, aber ganz gleich, wie energisch sie sich dies einzureden versuchte – alles an der Zeremonie gab ihr das Gefühl, sie würde ihren Bruder für immer verlieren.
Die Trommeln waren das schlimmste. Als Marrah in der Menge stand, von allen Seiten von Frauen bewacht, hämmerte der Klang der Trommeln unaufhörlich auf sie ein, bis sie das Gefühl hatte, sie zerschlügen ihr Herz und zwangen sie, sich zu unterwerfen. Es waren nicht nur ein paar Trommeln, sondern Dutzende. Wilde Männer schlugen sie, barbrüstige und fanatisch aussehende Männer mit spitz zugefeilten Zähnen und aufgemalten weißen Skeletten auf ihren Körpern. Als sie die Trommeln schlugen, heulten sie wie Wölfe und schrien wie Wildkatzen und verdrehten die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war.
Die Nomaden bewegten sich zum Dröhnen der Trommeln, nicht in irgendeiner geordneten Form von Tanz, sondern in einem bedrohlich wirkenden, schlurfenden Rhythmus, vor und zurück, hin und her, während sie gegen Marrah stießen und sie mit sich zogen. Sie fühlte sich verloren in den Ausdünstungen und der Hitze ihrer Körper. Sie waren so viel größer, daß sie nicht über sie hinwegsehen, so viel schwerer, daß sie sich gegen den Druck der Leiber nicht wehren konnte, und so war sie gezwungen mitzutanzen, und dabei weinte sie ihre Windtränen und dachte an Arang und ihre bevorstehende Hochzeit.
Manchmal, wenn sie ein flatternder Schal traf oder sie jemandem auf den Fuß trat, blickte ein Gesicht auf sie herab, aber ansonsten wurde sie ignoriert. Trotzdem mußten sie sie bemerkt haben, denn nach einer Weile schoben die Frauen sie nach vorn, damit sie etwas sehen konnte. Doch es war ein Abend, an dem es besser gewesen wäre, keine Augen oder Ohren zu haben. Ihr ganzes Leben lang sollte sie sich an den Augenblick erinnern, als sie Zuhan, den Großen Häuptling, zum ersten Mal zu sehen bekam. Es saß mit überkreuzten Beinen auf einer niedrigen Plattform, die mit weißen Teppichen bedeckt war. Hinter ihm schwankten die hohen Gräser im Wind wie eine Woge, die sich zu überschlagen drohte, und hoch über ihm verfärbte sich der Himmel zu einem trüben Rot, mit unregelmäßigen Flecken von Gold und Purpur gesprenkelt, die Marrah an zerstoßene Trauben erinnerten.
Er war ein alter Mann, grauhaarig und sehnig, mit einem Gesicht, das erschütternde Ähnlichkeit mit dem Stavans aufwies. Er hatte das gleiche ausgeprägte Kinn wie Stavan, die gleiche schmale Nase und die gleichen hohen Wangenknochen, aber in seinen Zügen war keine Spur von Stavans Sanftheit und Gutmütigkeit zu finden, und Marrah konnte sofort erkennen, daß nur ein Narr Barmherzigkeit von ihm erwarten würde. Sein Gesicht war das Gesicht eines Mannes, der die Macht liebte: intelligent, hart, unversöhnlich. Die Kälte der Steppe spiegelte sich in seinen Augen wider, und sie konnte die Dunkelheit langer Winter sehen in der Art, wie er die Lippen zusammenpreßte, und die Brutalität und Hitze des Sommers in der Haltung seines Kinns. Er starrte auf die Menschenmenge mit kalten blauen Augen, die niemals blinzelten. Auf dem Kopf trug er eine Sonnenkrone aus Gold und Kupfer, und in seiner rechten Hand hielt er ein pferdeköpfiges Zepter, schwer genug, um den Schädel eines Mannes zu zertrümmern.
Arang saß neben ihm, wirkte wie ein kleines, verängstigtes Kind. Beim Anblick ihres Bruders füllte sich Marrahs Herz mit Mitleid und Liebe – und Zorn. Sie hatten Arang Dinge angetan, die grausam und dumm waren, Dinge, die nur Geächtete einem Kind antun würden: Sie hatten ihn bis auf einen ledernen Lendenschurz ausgezogen und ihn bemalt, um ihn gefährlich aussehen zu lassen, hatten eine weiße Wolfsmaske auf sein Gesicht gezeichnet, seinen Körper mit ockerbraunen Symbolen bemalt, ihm eine Kette aus Wolfsklauen um den Hals gehängt, Löcher
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