Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
in seine Ohren gestochen und Habichtsfedern hineingeschoben und den größten Teil seines Haares abgeschnitten. Aber es war ihnen nicht gelungen, den furchtsamen Ausdruck von seinem Gesicht zu löschen. Er saß vornübergebeugt da, die Hände verkrampft auf den Knien, und jedesmal, wenn er Zuhan anblickte oder die Trommler oder, schlimmer noch, den schrecklichen, mit Leder ausgekleideten Becher zu seinen Füßen, zitterte er wie ein Kaninchen, das im Begriff ist, die Flucht zu ergreifen.
Der Becher war offensichtlich aus einem menschlichen Schädel gefertigt, und nur die Göttin wußte, was Zuhan damit vorhatte, aber Marrah konnte Arang nicht über das Dröhnen der Trommeln hinweg rufen und ihm sagen, er solle tapfer sein. Sie konnte ihm keinen Trost spenden, noch nicht einmal durch den Anblick ihres Gesichts, denn in dem Staub und dem Gewühl war sie nur eine weitere schalverhüllte Gestalt, die vor ihm hin und her schwankte, eine von Hunderten, und es war klar, daß er sie nicht erkannte. Und die ganze Zeit über sangen die Trommeln: »Er wird in den Stamm aufgenommen. Er ist jetzt ein Hansi.«
Die Zeit verging, die Trommeln dröhnten ohne Unterlaß weiter, und die Frauen fuhren fort, Marrah von einer Seite zur anderen zu schieben, bis sie völlig erschöpft war und ihre Füße schmerzten. Schließlich, als sie schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, jemals etwas anderes zu hören, brach das Geräusch der Trommeln abrupt ab, und Slehan trat vor, um Zuhan die Beute zu präsentieren, die er in Shambah geraubt hatte. Er ging stolz durch die Menge, jeder Zoll ein Eroberer, aber die Wahrheit war, daß er nicht sonderlich viel anzubieten hatte: nur ein paar goldene Tempelschmuckstücke, einige Ballen Tuch, die Sklavinnen und Akoah. Akoah war jetzt so in ihren Schal eingewickelt, daß Marrah ihr Gesicht nicht sehen konnte, aber an der Art, wie Akoah vor Zuhan zurückwich, konnte Marrah deutlich erkennen, daß sie panische Angst hatte.
Zuhan schien jedoch von Akoah und den Sklavinnen kaum Notiz zu nehmen. Er inspizierte die Tuchballen und den Tempelschmuck, prüfte das Gewicht des Leinens und kratzte an dem Gold, als glaubte er, Slehan versuchte vielleicht, ihn übers Ohr zu hauen, indem er ihm Kupfer anbot. Als er die Beutestücke begutachtete, wurden seine Augen schmal, und tiefe Falten erschienen auf seiner Stirn. Offenbar war er ernsthaft verärgert. Shambah war keine reiche Stadt gewesen, und zu seinen Füßen lagen nur ein paar zeremonielle Halsketten, ein paar Ohrringe und ein halbes Dutzend Armbänder, graviert mit Dreiecken und andern Göttinnensymbolen. Zuhan fischte einen der Ohrringe heraus – einen kleinen goldenen Schmetterling, ungefähr von der Größe von Marrahs Daumennagel –, zerdrückte ihn mit einer Hand und schleuderte ihn Slehan verächtlich entgegen. Dann hielt er eine kurze Rede. Marrah konnte die Worte zwar nicht verstehen, aber das war auch nicht nötig. Die Bedeutung war klar: »Ist das alles?« fragte er Slehan. »Mehr hast du mir nicht mitgebracht? Wo ist der Rest?«
Sie erwartete von Slehan, daß er sich verteidigen oder zumindest eine Entschuldigung vorbringen würde, denn jeder halbwegs vernünftige Mensch konnte sehen, daß Zuhan als nächstes seinen Kriegern befehlen würde, Slehan zu packen und den Rest der nicht vorhandenen Beute aus ihm herauszuschütteln, aber statt Zuhan um Verzeihung zu bitten, verzog Slehan seinen Mund zu einem langsamen, kalten Lächeln, griff in seinen Lederbeutel, holte eine Halskette heraus und reichte sie Zuhan mit einer arroganten Verbeugung. Es war schwierig zu erkennen, was es für Slehan zu lächeln gab, denn die Kette war häßlich, zwar sehr lang, aber primitiv gemacht. Dennoch mußte etwas Besonderes an dem Geschenk sein, weil ein Murmeln der Bewunderung durch die Menge ging und die Frauen neben Marrah kleine, zischende Laute der Freude ausstießen. Wie seltsam die Nomaden waren. Hier war dieses grobe, primitive Schmuckstück – das auf den zweiten Blick noch nicht einmal wie eine Halskette aussah –, nicht aus Gold oder auch nur aus Kupfer gefertigt, und dennoch bewunderten es alle, als wäre es von den besten Goldschmieden von Shara entworfen worden. Die Wahrheit war, daß es wie eine Schnur mit getrockneten Feigen aussah. Aber merkwürdige Feigen: Sie waren ... paarweise ... aufgefädelt ...
Plötzlich begriff Marrah, was sie da sah. Sie schloß die Augen und schob sich ihren Schal in den Mund, um nicht vor Entsetzen laut aufzuschreien. Eine
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