Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
irgend jemand – und besonders eine ältere Frau – derart gedemütigt wurde. Sie erinnerte sich, wie auch sie Vlahan angefleht hatte und was es ihr genützt hatte. Zum allerersten Mal empfand sie eine gewisse Sympathie für Zulike. Möge die Göttin ihr Leben verschonen, betete sie stumm und dachte daran, was Zulike gewesen wäre, wenn sie in Shara gelebt hätte: eine Großmutter, von allen respektiert, und Mitglied im Stadtrat, statt hier im Staub herumzukriechen.
Vlahan schwieg lange Zeit. Er stand einfach nur da und starrte mit kaltem, nachdenklichem Blick auf die alte Frau. »Steh auf«, befahl er schließlich.
Zulike erhob sich auf die Füße und stand leicht schwankend vor ihm, mit einem benommenen Ausdruck im Gesicht. Ihr graues Haar hing in Strähnen um ihre Wangen, ihre Augen waren blutunterlaufen. Sie sah erbärmlich aus und wirkte fast zerbrechlich, trotz ihres harten, energischen Kinns und der Muskeln an ihren Armen.
»Warum bist du noch nicht tot?« fragte Vlahan kalt.
Es war eine derart grausame, unerwartete Frage, daß Marrah entsetzt nach Luft schnappte, aber alle anderen, einschließlich Zulike, schienen sie als völlig normal zu empfinden.
»Ich bin eine gute Ehefrau gewesen«, murmelte sie mit erstickter Stimme.
»Sprich lauter.«
»Ich sagte, ich bin eine gute Ehefrau gewesen.«
Vlahan nickte. »Ja«, stimmte er zu. »Das ist wahr. Jeder weiß, deine Tugendhaftigkeit ist niemals angezweifelt worden. Also, warum bist du noch nicht tot?«
Zulike begann zu zittern und biß sich auf die Lippen. »Weil mir niemand einen Dolch geben wollte.«
»Warum nicht? «
»Sie sagen, ich hätte nicht gut genug auf Zuhan aufgepaßt, aber was hätte ich denn tun sollen? Gestern abend war er noch wohlauf – du hast ihn selbst gesehen. Aber heute morgen, als ich aufwachte, war er tot.« Sie fing wieder an zu schreien. »Gib mir mein Recht! Ich bin seine erste Ehefrau. Ich habe ein Recht darauf, ihm ins Paradies zu folgen! Ich bin die Großmutter des Erben! Ich werde mich nicht wie eine gewöhnliche Konkubine zum Grab des Großen Häuptlings schleifen lassen! Das Gesetz besagt, daß ich das Recht habe, an seiner Seite zu liegen. Ich weiß, du hast Zuhan vergiftet; jedermann weiß das! Du konntest nicht der Große Häuptling werden, weil du ein Bastard bist, also hast du beschlossen, durch den dunkelhäutigen Jungen zu herrschen, der Achan ebensowenig ähnlich sieht wie eine Kröte. Gut, dann herrsche ünd sei verdammt! Alles, was ich will, ist mein Tod, und das Gesetz besagt, daß du ihn mir schuldig bist!«
Vlahans Miene war vollkommen ausdruckslos geworden bei der Erwähnung von Gift, aber seine Augen verengten sich zu Schlitzen. In ihren Tiefen flackerte etwas Brutales auf. Er winkte zwei junge Krieger her, die wartend in der Nähe standen. »Schickt Zuhans Ehefrau ihrem Herrn und Gebieter nach«, befahl er.
»Warte!« kreischte Zulike. »Ich will mich selbst töten. Ich fordere das Recht, von eigener Hand zu sterben, wie es einer treuen Ehefrau zusteht! Du kannst mich nicht wie eine Sklavin strangulieren!«
Ohne sich um ihre Schreie zu kümmern, trat der größere der beiden Krieger vor und löste so schnell die Sehnen von seinem Bogen, daß sie noch vibrierten, als er sie um Zulikes Hals schlang und zuzog. Zulikes Augen quollen hervor, und sie öffnete den Mund, aber es kam kein Laut heraus. Eine Sekunde lang standen sich die alte Frau und der Krieger von Angesicht zu Angesicht gegenüber wie zwei Liebende in einer makabren Umarmung. Dann ließ er Zulike los, und sie fiel leblos zu Boden.
Marrah schrie entsetzt auf, doch niemand hörte sie. In dem Moment, in dem Zulike stürzte, stieg ein Schrei der Freude und Zustimmung von den Nomadenfrauen auf. Singend und händeklatschend stürmten Dutzende von Ehefrauen in einem Geflatter von braunen Schals und langen Tuniken vorwärts. Einige bückten sich und hoben Zulikes Leichnam hoch, während die anderen um sie herum tanzten und einen hohen, schrillen Gesang anstimmten. Ihre ascheverschmierten Gesichter wirkten wie die Fratzen von Wahnsinnigen, und ihre Köpfe waren unbedeckt, aber es schien niemanden zu stören.
»Der Große Häuptling ist tot
und ins Paradies eingekehrt«,
sangen sie,
»und seine gute Ehefrau ist ihm gefolgt.
Schickt ihm seine Sklavinnen und seine Konkubinen nach,
schickt einhundert seiner Pferde.
Laßt Zuhan in Glanz und Pracht
zum Palast von Han reiten,
wo der Gott selbst auf seinem brennenden Thron sitzt!«
Indem sie
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