Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Zulikes Leichnam von Hand zu Hand weiterreichten, trugen die singenden Frauen das schmutzige braune Bündel fort, während Marrah ihnen starr vor Entsetzen nachschaute. Jetzt war ihr alles klar: Zuhan war tot, und die Nomaden waren im Begriff, ihm alle seine Frauen in den Tod nachzuschicken. Vlahan herrschte jetzt über die Hansi, und Arang war in seiner Gewalt.
Eine Sekunde lang war sie so von Grauen erfüllt, daß sie sich nicht rühren konnte. In Gedanken sah sie wieder die Bogensehne, sah Zulikes vorquellende Augen, hörte das dumpfe Geräusch, das ihr Körper machte, als er leblos auf den Boden aufschlug, und sie stellte sich vor, wie Dalish und Akoah aussehen würden, nachdem die Krieger mit ihnen fertig waren. Furcht kroch an ihren Beinen hoch und ihr Rückgrat hinauf, verwandelte ihre Knochen in Wasser und ihr Herz zu Eis. Sie schlug die Hände vor die Augen und wandte sich ab von der schlammigen Stelle, wo Zulikes Leichnam gelegen hatte.
Ergib dich, flüsterte die Angst. Du wirst niemals gegen sie gewinnen. Sie sind unmenschlich grausam und von roher Gewalt, und alles, was du hast, ist dein Verstand. Und was nützt dir dein Verstand gegen dieses Rudel Wölfe? Ergib dich Vlahan, bevor er dich ebenfalls tötet. Sei eine »gute« Hansi-Frau; sei eine gehorsame Ehefrau.
Bei dem Gedanken, eine »gute« Hansi-Frau zu sein, hakte etwas in ihrem Inneren aus. Es war ein merkwürdiges Gefühl, als risse eine zu straff gespannte Saite. Lieber würde ich sterben! dachte sie rebellisch. Lieber würde ich im Kampf fallen! Ich werde von hier fliehen, und ich werde Dalish und Akoah und die Frauen aus Shambah mitnehmen. Immer noch besser, wir alle sterben draußen in der Steppe, als auch nur eine einzige Frau zurückzulassen!
Einen Augenblick stand sie einfach nur da, verblüfft und verwundert, während sie sich fragte, woher dieser verrückte, störrische Mut plötzlich gekommen war. Allmählich begriff sie, daß es ihr eigener war. Ich bin unter dem Schutz der Göttin geboren und mit den Geboten der Göttin aufgewachsen, dachte sie, und ich werde nicht aufgeben!
Sie ließ ihre Hände sinken und blickte Vlahan an, der immer noch mit vor der Brust gekreuzten Armen vor dem Zelt stand und auf die Menge von Männern starrte, die sich in einem Halbkreis um ihn versammelt hatten. Marrah entdeckte eine Reihe vertrauter Gesichter in der Menge, einschließlich Slehans, aber Stavan war nirgendwo in Sicht. Hinter Vlahan hatte ein Dutzend schwer bewaffneter Krieger Posten bezogen, die Speere bedrohlich erhoben. Marrah erkannte die meisten von ihnen als Zuhans frühere Leibwächter. Sie waren jung und sahen gefährlich aus, allesamt narbenbedeckte Veteranen von zahllosen Schlachten, und alle waren Vlahan eindeutig treu ergeben. Es bestand kein Zweifel daran, wer jetzt die Macht im Lager besaß.
Mehrere Augenblicke unbehaglichen Schweigens verstrichen, nur unterbrochen vom gelegentlichen Murmeln eines Kriegers am Rand der Gruppe. Dann erschallte eine Trompete in der Ferne, und Changar erschien mit zwei Pferden. Das eine war Vlahans schwarzer Hengst, das andere Zuhans weißer Wallach. Arang saß auf dem Rücken des Wallachs; seine Miene verriet Angst. Er trug eine weiße Wolltunika, weiße Beinlinge und einen bestickten Umhang mit einer troddelverzierten Kapuze. Eine schmale Goldkrone wand sich um seine Stirn, und um seinen Hals hing eine Kette aus Wolfszähnen und goldenen Sonnen. In der einen Hand hielt er Zuhans pferdeköpfiges Zepter, in der anderen einen kleinen zeremoniellen Dolch.
Aber Arang und Changar kamen nicht allein. Um sie herum in streng ausgerichteter Formation ritten sechs weitere Leibwächter, alle mit entblößtem Oberkörper, als wären sie im Begriff, in eine Schlacht zu ziehen. Sie waren bis an die Zähne mit Speeren und Messern bewaffnet, und drei von ihnen hatten ihre Bogen gespannt und zielten geradewegs auf die Menge.
Als Arang Marrah sah, hellte sich seine Miene ein wenig auf, und er wollte etwas zu ihr sagen, aber Changar brachte ihn mit einem grimmigen Blick zum Schweigen, und er zuckte erschrocken zurück. Die Leibwächtertruppe teilte sich, bildete eine bewaffnete Gasse von Changar zu Vlahan. Ohne der Menge auch nur einen Blick zu gönnen, schritt Changar den Gang hinauf und reichte Vlahan die Zügel der beiden Pferde. Dann verbeugte er sich steif und trat zur Seite.
Vlahan legte eine Hand auf den Rücken des Hengstes, sprang hinauf und saß einen Moment lang da, während er seinen Blick über die
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