Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
die Klappen ihrer Zelte auf und stolperten heraus, noch halb betäubt vom Schlaf; die Frauen, die bereits auf waren, ließen ihre Milcheimer fallen, warfen ihre Körbe mit Essen auf den Boden, griffen nach ihren Kindern und begannen laut zu jammern. Kinder weinten, Hunde bellten, notdürftig bekleidete Krieger, mit Dolchen und Speeren bewaffnet, schwärmten in alle Richtungen aus. Marrah, die glaubte, das Lager sei angegriffen worden, blickte sich hastig nach etwas um, womit sie sich verteidigen könnte, aber es war nichts weiter verfügbar als ein faltbarer Ledereimer und ein Stück zerfranstes Seil.
»Ai! Ai! Ai!« schrie eine vertraute Stimme. Marrah wirbelte herum und sah Timak vor dem Zelt stehen, ihr Haar ungeflochten und wild zerzaust. In der einen Hand hielt Timak ihren besten Schal, und während Marrah ungläubig zuschaute, zerriß sie ihn mit Zähnen und Fingernägeln in Fetzen. Hinter ihr stand Vlahan mit vor der Brust verschränkten Armen und beobachtete die Szene ungerührt, während Hiknak vorsichtig den Kopf zur Zeltklappe heraussteckte, als wüßte sie, was vorging, jedoch nicht Teil davon sein wollte.
»Was soll das furchtbare Geschrei? « rief Marrah und zeigte in die Richtung der schrillen Schreie, aber Timak fuhr nur jammernd fort, ihren Schal zu zerreißen, und Vlahan reagierte ebenfalls nicht. Inzwischen war Hiknak wieder im Inneren des Zelts verschwunden, und was die nächsten Nachbarn betraf, so waren offenbar jeder einzelne Mann, jede Frau und jedes Kind verrückt geworden. Marrah konnte andere Frauen ihre Kleidung zerreißen sehen; einige schmierten sich Asche und Erde ins Gesicht, und ein paar der älteren hatten sich zu Boden geworfen und rollten sich wimmernd herum, als litten sie unter plötzlichen Krämpfen. Die meisten Männer liefen jetzt nicht länger hektisch herum. Sie standen wie erstarrt da, den Speer in der Hand, als warteten sie auf etwas.
Das Gejammer der Frauen wurde lauter, aber über all dem Wehklagen schwoll der schreckliche Schrei, den Marrah zuerst gehört hatte, unablässig an und kam näher und näher. Plötzlich bot sich ihr ein unglaublicher Anblick: Zulike, Zuhans Ehefrau, lief von Zelt zu Zelt. Sie war barfuß und trug eine zerfetzte Tunika. Jedesmal, wenn sie zu einer neuen Gruppe von Leuten kam, fiel sie auf die Knie, streckte flehend die Hände aus und bat um etwas, aber was es auch war, es wurde ihr immer wieder verweigert. Ein Mann – oder eine Frau oder sogar ein Kind – kam auf sie zu, versetzte ihr einen Fußtritt und ließ sie der Länge nach hinschlagen. Wenn dies geschah, rappelte sich Zulike unter verzweifeltem Gejammer wieder auf und lief weiter zum nächsten Zelt, wo sich genau der gleiche Vorgang abspielte.
Marrah beobachtete ihr Näherkommen mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Welche Art von groteskem Ritual war dies? Es sah aus, als flehte Zulike um ihr Leben, aber was konnte sie denn nur getan haben, um sich in solche Schwierigkeiten zu bringen? Ob sie Zuhan betrogen hatte? Ziemlich unwahrscheinlich in ihrem Alter, aber andererseits konnte man nie wissen. Hatte sie sich irgendeinen jungen Krieger zum Liebhaber genommen? Wenn ja, dann alle Achtung! dachte Marrah. Sie mochte Zulike zwar nicht, aber Zuhan mochte sie noch weniger. Gebt der alten Zulike eine Chance, dachte sie. Verschont ihr Leben. Aber die Hansi fuhren unbeirrt fort, sie mit Fußtritten in den Schmutz zu befördern und ihr Flehen zu ignorieren.
Die bizarre Zeremonie wiederholte sich ein ums andere Mal. Schließlich kam Zulike zu Vlahans Zelt, dem letzten im Lager. Ihre Knie waren aufgeschrammt, und ihr Haar war voller Stroh und Schlamm. Ihr Nasenring und die Ohrringe waren herausgerissen worden, hatten blutige Löcher hinterlassen, und an ihren Armen waren nur noch blasse Streifen auf der Haut zu erkennen, wo sie einst ihre vielen Armbänder getragen hatte. Schluchzend warf sie sich auf die Knie und kroch vor Vlahans Füße. »Hab Erbarmen mit mir!« schrie sie. »Ich habe dich immer als meinen Sohn betrachtet, habe dich immer am meisten geliebt.« Sie kroch vorwärts. »Vlahan der Weise, Vlahan der Barmherzige, hab Mitleid mit der alten Zulike. Ich habe mich nie darum gekümmert, daß du Zuhans Bastard warst oder daß deine Mutter eine Sklavin war. Ich habe immer gedacht, daß du derjenige sein solltest, der einmal die Hansi regiert. Sei gnädig und erspare mir diese Erniedrigung! «
Marrah war regelrecht angewidert. Es war schrecklich, mitansehen zu müssen, wie
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