Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Neugier entgegen, es war jedoch offensichtlich, daß sie nicht die Absicht hatten, sie durchzulassen. Einer von ihnen zeigte halbherzig mit seinem Speer auf sie, während die anderen einen Wasserschlauch herumreichten, der, nach dem Ausdruck auf ihren Gesichtern zu urteilen, etwas Stärkeres zu enthalten schien als klares Wasser.
Marrah legte ihre Hände trichterförmig an den Mund. »Arang! « rief sie. »Ich bin's, Marrah. Sag den Wachen, sie sollen mich durchlassen.«
Beim Klang ihrer Stimme zog Arang augenblicklich die Zeltklappe beiseite und steckte den Kopf heraus. »Marrah! Bin ich froh, dich zu sehen! Du kannst dir nicht vorstellen, was sich hier abgespielt hat! « Er wandte sich an die Wachen und befahl ihnen, Marrah vorbeizulassen, und als sie zögerten, verschwand er wieder im Zelt, holte das Pferdezepter und schwang es mit so viel Würde in ihre Richtung, daß selbst Marrah beeindruckt war. Sein Hansi war perfekt; er klang, als hätte er die Sprache schon sein Leben lang gesprochen, und es hatte die gewünschte Wirkung. Noch einen Tag zuvor hätten die Wachen wahrscheinlich nur Befehle von Zuhan angenommen, aber Zuhan war tot, und jetzt war Arang der neue Große Häuptling, zumindest dem Namen nach. Kaum fiel ihr Blick auf das Pferdezepter, da winkten sie Marrah mit respektvollen Verbeugungen durch.
Als sie an ihnen vorbeiging, stieg ihr der süß-saure Geruch von Kersek in die Nase. Die Trinkerei hatte also schon begonnen. In welcher Verfassung würden sie und die anderen Krieger bis zu dem Zeitpunkt sein, wenn Zuhan beerdigt war? Sie fragte sich, ob Arang irgend etwas erreichen würde, wenn er die Wachen anwies, Pferde zu satteln, damit sie fliehen konnten, aber wenn das möglich gewesen wäre, hätte er es ohne Zweifel schon längst getan. Er mochte erst zwölf Jahre alt sein, aber er war kein Narr.
Zu ihrer Überraschung war Arang die einzige Person im Zelt.
Nachdem er ihr mit einer Handbewegung bedeutet hatte, sich auf einen Stapel bestickter Kissen zu setzen, hockte er sich neben sie und warf das Pferdezepter auf den Boden. Er war eine kleine, kompakte Gestalt, wie er da mit untergeschlagenen Beinen saß, aber er war während der letzten Monate ein ganzes Stück gewachsen. Die Jungenhaftigkeit wich allmählich aus seinem Gesicht, und die Tätowierungsnarben verliehen ihm das Aussehen eines wesentlich älteren Menschen. Das regelmäßige Training mit Bogen und Speer hatte ihn schlank und muskulös gemacht, und die Krone des Großen Häuptlings verlieh ihm Würde, aber letzten Endes war er immer noch ihr kleiner Bruder.
»Was werden wir tun?« fragte er, sobald sie saßen, so als wüßte Marrah wie immer eine Lösung für jedes Problem.
»Wir werden fliehen«, erklärte sie, und beim Sprechen erkannte sie, daß es ihr voller Ernst war. Sie erzählte ihm alles, begann mit dem Moment, als sie mitten in der Nacht aufgewacht und Stavan über sie gebeugt war, und endete mit Zulikes Tod, aber etwas in Arangs Gesicht ließ sie innehalten. Wieder blickte sie sich im Zelt um, betrachtete die Stapel kostbarer Felle und Decken, die übervollen Körbe mit Essen, die langen Tuniken und Schals, die achtlos auf dem Boden verstreut lagen, die Pferdemasken und Tonkrüge und Beutel voller Schätze, und wieder erschien es ihr sonderbar, daß Zuhans sämtliche Besitztümer aufgehäuft waren außer den wichtigsten: es waren keine Waffen und keine Frauen da.
»Wo ist Dalish? Ich dachte, sie würde hier bei dir sein, selbst wenn die anderen irgendwo anders sind, aber sicherlich gibt es andere Zelte, wo –«
»Sie ist weg«, erwiderte Arang gepreßt. In seiner Stimme schwang jetzt nichts Kindliches mehr mit. »Vlahans Krieger kamen, um sie und Akoah und die anderen fortzubringen, sobald Zulike zu schreien begann, daß Zuhan tot sei. Ich glaube, sie halten sie in einem Zelt gefangen, irgendwo in der Nähe der Stelle, wo sein Grab geschaufelt werden soll.« Er hielt einen Augenblick inne. »Als Vlahan mir sagte, sie würden alle stranguliert werden und ich würde neue Frauen bekommen, bin ich mit meinem Dolch auf den Bastard losgegangen. Es war verrückt von mir, das ist mir klar; der Kerl hätte mir fast das Handgelenk gebrochen, als er mir die Waffe aus der Hand riß, aber es kümmert mich nicht. Es war es wert, und zumindest weiß ich jetzt, daß er es nicht wagt, mich zu töten. Aber er wollte es tun, ich konnte den Haß in seinen Augen sehen.«
Deprimiert starrte Marrah auf die Tuniken und umgedrehten Körbe
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