Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
versammelten Krieger schweifen ließ. Es herrschte undurchdringliches Schweigen. Unter der Oberfläche, irgendwo in der Tiefe, grollte die Drohung von Gewalt wie ferner Donner. »Seht euren neuen Großen Häuptling! « rief Vlahan und zeigte auf Arang. »Seht den Sohn des Helden Achan, den Enkelsohn des Großen Zuhan, den treu zu beschützen ich versprochen habe, bis er volljährig wird. Laßt jeden Mann, der das Recht dieses Jungen bestreitet, über die Hansi zu herrschen, jetzt in gerechtem Kampf gegen mich antreten oder für immer schweigen.«
Niemand wagte es, vorzutreten und den Zorn Vlahans und der bewaffneten Krieger zu riskieren, die hinter ihm standen. Zufrieden warf er die Zügel von Arangs Pferd wieder Changar zu. »Bring den kleinen Häuptling zu seinem Zelt zurück«, sagte er.
Changar verbeugte sich und führte Arang fort, und die sechs berittenen Leibwächter begleiteten sie, die Bogen noch immer schußbereit erhoben.
Vlahan wandte sich erneut zu der Menge um. »Heute werden wir den Helden Zuhan auf die traditionelle Art betrauern.« Er sprach mit gedämpfter, eindringlicher Stimme, während er mehr sagte, als Marrah ihn die ganze Zeit, die sie in seinem Zelt gelebt hatte, jemals hatte sagen hören. »Alle Feuer werden gelöscht werden, und jeder wird kaltes Fleisch essen. Wir werden das Grab des Großen Häuptlings schaufeln, seine Schätze zusammentragen und seine Pferde einfangen. Heute und heute nacht wird Zuhans Körper vor seinem Zelt aufgebahrt liegen, damit jeder ihn sehen kann, und Zulike, seine friedliebende Ehefrau, wird in aller Ehre neben ihm liegen. Morgen werden wir die Bestattungsspiele abhalten und die Opfer darbringen, aber dies ist die Zeit der Dunkelheit, wenn Zuhans Seele auf dem Weg ins Paradies die Hölle durchwandert, und wir müssen wehklagen und zu Choatk dem Schrecklichen beten, dem Großen Häuptling der Unterwelt.«
In der Menge breitete sich Unruhe aus, und Marrah sah Slehan und mehrere andere Krieger wütende Blicke tauschen. Vlahan begann, die Bestattungsspiele zu beschreiben, doch Marrah wollte nichts mehr davon hören. Sie ergriff eine Handvoll Asche aus dem Feuer und rieb sie sich ins Gesicht. Dann ging sie einfach in die Menge hinein und drängelte sich rücksichtslos zwischen den Männern durch. An jedem anderen Tag hätte sie sich wahrscheinlich eine schallende Ohrfeige oder noch Schlimmeres eingehandelt, aber heute nahmen die Krieger kaum Notiz von ihr. In der Annahme, sie wolle zu den anderen Frauen, machten sie ihr unwillig knurrend Platz, ohne jedoch ein einziges Mal den Blick von Vlahan abzuwenden.
Sobald Marrah aus dem Gewühl heraus war, begann sie zu laufen. Niemand rief ihr nach. Niemand befahl ihr zurückzukommen.
Marrah war noch nie zuvor in der Nähe von Zuhans Zelt gewesen, doch sie hatte keine Mühe, es zu finden. Die meisten Hansi-Zelte hatten vier Zeltstangen, Zuhans dagegen hatte acht, und seine weißen Planen waren mit Sonnensymbolen und Sternen geschmückt. Zuhan persönlich begrüßte sie. Sie hatten ihn auf einem Stapel Teppiche aufgebahrt, mit einem Speer in der einen Hand und einem Dolch in der anderen. Der Tote trug nichts außer einem Lendenschurz aus Leder und einem weißen Umhang, aber sein Körper war mit Symbolen bemalt, und Ketten aus Wolfszähnen, goldenen Anhängern und anderen Schmuckstücken hingen um seinen Hals. Er bot einen seltsamen Anblick, wie er da lag, wie ein junger Krieger herausgeputzt. Sie hatten Bündel frisch duftender Kräuter um ihn herum aufgeschichtet, aber von seinem Körper stieg ein sonderbar bitterer Geruch auf. Seine Arme waren dünn und muskulös, doch seine mit grauen Haarbüscheln bewachsene Brust war eingefallen, von Clanzeichen und alten, häßlichen Narben bedeckt. Und sein Gesicht wirkte wie eine starre Maske – kalkweiß, mit bläulich verfärbten, eingesunkenen Höhlen, wo seine Augen gewesen waren. Aber es waren seine Lippen, die Marrahs Interesse weckten. Jemand hatte offensichtlich versucht, seine Züge herzurichten, und hatte versagt. Seine Lippen waren in Todesqual verzerrt, und seine Zungenspitze ragte ein Stück heraus. Er hatte eindeutig einen schrecklichen Tod erlitten, und ebenso eindeutig stand fest, daß er vergiftet worden war.
Hinter ihm standen sechs Leibwächter mit Speeren in der Hand und blockierten den Eingang zum Zelt. Marrah war erleichtert, als sie die bewaffneten Männer sah, denn das bedeutete, daß Arang wahrscheinlich im Zelt war. Die Wachen blickten Marrah mit
Weitere Kostenlose Bücher