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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Boden um ihn herum schlagen, um ihn wissen zu lassen, wie wütend wir sind.«
    Wenige Augenblicke später hatte jeder eine Art Stock gefunden: lange Holzscheite, Hacken, Stange, Axtgriffe. Dann stellten sie sich in einem Halbkreis um den Fremden auf, hoben die Stöcke über den Kopf und ließen sie mit einem so heftigen Schlag auf den Pfad niedersausen, daß Wolken von Staub aufflogen.
    »Böse!« schrie Lepa. »Böser Mann!« Sie machte ihm pantomimisch klar, wie er Majina geschlagen hatte, und ahmte dann das weinende Kind nach. »Du darfst niemals wieder ein Kind schlagen! Nie, nie, nie wieder!«
    Der Fremde rappelte sich hastig auf und wich zurück, eindeutig alarmiert durch den Halbkreis wütender Dorfbewohner. Da er zu schwach war, um zu fliehen, war er gezwungen, an einer Stelle stehenzubleiben, als die Stöcke um ihn herum niedersausten und ihn nur knapp verfehlten. »Das reicht.« Lepa hob die Hand und gab ihnen ein Zeichen aufzuhören. »Ich glaube, er versteht jetzt.«
    »Ich glaube nicht, daß wir es dabei belassen sollten«, protestierte Marrah. »Selbt wenn er jetzt versteht, müssen wir ihm begreiflich machen, daß es nicht genug ist, ein Kind nicht zu schlagen; man muß es auch lieben.«
    »Ja«, stimmten alle zu. »Wir müssen ihn lehren, Kinder zu lieben.«
    Lepa zog Majina an sich und umarmte sie zärtlich. »Siehst du«, sagte sie zu dem Fremden, »wir lieben unsere Kinder.« Sie schob Majina zu Marrah, die das Kind ebenfalls umarmte und sein Haar streichelte, um es dann an den nächsten weiterzureichen. Einer nach dem anderen umarmten die Dorfbewohner das kleine Mädchen, während sie dem Fremden zuriefen, Zeuge ihrer Zuneigung für das Kind zu sein. Als Majina von einem Paar liebevoller Arme zum nächsten wanderte, veränderte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht von Furcht zu Verwirrung, gefolgt von Verstehen und etwas, was Beschämung nahekam.
    »Bnoah doni«, sagte er leise.
    Lepa brachte ihr Gesicht dicht vor seines. »Heißt das, es tut dir leid?« fragte sie. »Heißt das, daß du verstanden hast?«
    »De«, flüsterte der Fremde und streckte die Arme nach Majina aus.
    »Ich glaube, er möchte sie auch umarmen«, meinte Marrah. Lepa blickte den Fremden unsicher an. »Ich weiß nicht, ob mir die Idee gefällt. Was, wenn er sie wieder schlägt?«
    »Wenn er es tut, dann werden wir mehr tun, als nur mit unseren Stöcken auf den Boden zu schlagen«, versprach Gorriska.
    Lepa wandte sich an ihre Tochter. »Majina, wenn du dich von diesem fremden Mann umarmen lassen möchtest, dann kannst du das tun, aber wenn du Angst hast, zu ihm zu gehen, dann werden wir das alle verstehen.«
    Majina blickte den Fremden an, der immer noch mit ausgestreckten Armen dastand. »Ich weiß nicht«, sagte sie stirnrunzelnd. »Er tut mir leid, aber seine Ohrfeige hat weh getan.« Sie verschränkte ihre kleinen Arme vor der Brust und spreizte die Füße wie ihre Mutter. »Arang hat mir erzählt, Baby Erori wüßte schon mehr über Menschen als dieser Mann da, und jetzt glaube ich, Arang hat recht. Trotzdem tut er mir irgendwie leid.«
    Sie löste ihre Arme, ging zu dem Fremden und blieb einen Moment knapp außerhalb seiner Reichweite stehen. »Sei freundlich«, kommandierte sie, und dann trat sie vor, warf ihre Arme um seine Taille und umarmte ihn. Ein Ausdruck der Überraschung erschien auf seinem Gesicht. Langsam beugte er sich vor, nahm das Kind in seine Arme und stand einen Augenblick reglos da, während er sein Gesicht in ihrem Haar vergrub. Als er Majina schließlich losließ, sahen alle die Tränen in seinen Augen.
    »Er ist schließlich doch ein menschliches Wesen«, meinte Gorriska.
    »Und es tut ihm leid«, fügte Marrah hinzu.
    Es war Majina, die das letzte Wort behielt. Nachdem sie den Fremden leicht auf die Stirn geküßt hatte, kehrte sie zu ihrer Mutter zurück. »So böse ist er eigentlich gar nicht.«
    Doch als Ama von dem Vorfall hörte, war sie sich nicht so sicher. Der Fremde mochte es vielleicht bereuen, Majina geschlagen zu haben, aber man konnte unmöglich vorhersehen, was er als nächstes tun würde. Und so rief sie Egura, die Dorftischlerin, zu sich, und wies sie an, eine Art Tragbahre zu bauen, damit sie den Fremden nach Hoza transportieren konnten, da er offensichtlich noch zu schwach war, den ganzen Weg zu laufen. Vielleicht würde die »Mutter aller Familien« wissen, was mit ihm zu tun war. Mutter Asha war eine alte Frau, schon weit über neunzig, und sie hatte viele seltsame Dinge in

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