Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
vereint gewesen, und es würde weitere drei Jahre lang Frieden herrschen.
Marrah weinte vor Freude und Erleichterung. Der Fremde, der den ganzen Morgen lang neben ihr gesessen hatte, bemerkte ihre Tränen und war verwirrt. Er hatte die gesamte Zeremonie aufmerksam verfolgt, ohne etwas davon zu verstehen. Was bringt diese Wilden dazu, so zu schuften? fragte er sich verwundert. Was haben sie davon?
Mutter Asha, die »Mutter aller Familien«, hatte ebenfalls zugeschaut, wie die jungen Männer den neuen Göttinnenstein aufstellten. Sie hatte auf einer hölzernen Plattform auf einem bequemen Stapel von Schaffellen gesessen, durch einen fest geflochtenen Schirm aus Stroh vor der Sommersonne geschützt. Um sie herum stand ein halbes Dutzend Dorfmütter, bereit, ihr einen Schluck kühles Wasser zu bringen oder ihr Luft zuzufächeln oder alles andere zu tun, was sie verlangte, obwohl die meisten von ihnen längst mehrfache Großmütter waren. Und wenn schon! dachte Mutter Asha, keine von ihnen ist so alt wie ich. Ich habe bereits mein jüngstes Kind und das älteste Mitglied meines Dorfrates um mehr als zwanzig Jahre überlebt, und wer weiß, vielleicht lebe ich noch weitere zwanzig Jahre.
In ihrem hohen Alter von achtundneunzig Jahren brauchte sie alle die kleinen Bequemlichkeiten, die sie ihr verschaffen konnten, denn obwohl ihre Augen immer noch klar waren und ihr Verstand so scharf wie immer, war ihre Haut so alt, daß sie wie abgenutztes Leder aussah, und bis auf drei schwarze Backenzähne existierten ihre übrigen Zähne nur noch in der Erinnerung. Wenn ich daran denke, wie ich früher in ein Stück Rehfleisch gebissen habe! dachte sie geistesabwesend, als sich die jungen Männer vor der jubelnden Menschenmenge verbeugten. Asha jubelte ihnen natürlich ebenfalls zu, denn die jungen Männer wären schrecklich enttäuscht gewesen, wenn sie keinerlei Begeisterung gezeigt hätte, aber sie hatte diese gleiche Zeremonie schon viele Male zuvor gesehen, deshalb berührte sie sie nicht mehr so tief wie einstmals.
Während sie Worte des Lobes rief und mit ihrem Gehstock auf die hölzerne Plattform trommelte, ertappte sie sich bei dem Gedanken, daß sie sich noch exakt daran erinnerte, wie der Rehfleischeintopf ihrer Mutter ausgesehen und geschmeckt hatte – vor neunzig Jahren. Vor ihrem inneren Auge konnte sie wieder den dunkelbraunen Topf sehen, wie er auf seinem Gestell über heißen Kohlen stand, sah das Muster von Tupfen und Schlangenlinien, das auf der Außenseite eingeritzt war, ja sogar die saftigen Stücke Rehfleisch, die in der dicken Brühe schwammen, gewürzt mit Kräutern, von denen nur ihre Mutter zu wissen schien, wo man sie finden konnte.
Mutter Asha nickte, zufrieden mit sich selbst. In letzter Zeit hatte sie schon befürchtet, sie würde vergeßlich. Zum Beispiel, was den Text von Liedern betraf. Die gesamte Geschichte des Küstenvolks wurde mündlich überliefert; wenn man auch nur den Text eines einzigen Liedes vergaß, bedeutete das, ein wichtiges Dokument der Vergangenheit zu vergessen. In letzter Zeit hatte Asha gemerkt, daß sie nicht in der Lage war, sich an ein paar der Lieder zu entsinnen, die nur selten gesungen wurden. Natürlich wußte sie immer noch Tausende von Strophen, aber im vergangenen Jahr oder so hatten sich mehrere kleine, beunruhigende Gedächtnislücken aufgetan, deshalb war es eine Erleichterung, festzustellen, daß ihre Erinnerung immer noch klar genug war, um sich den Duft eines Eintopfes ins Gedächtnis zurückzurufen, der Generationen zuvor gegessen worden war.
Als Asha genug Beifall gespendet hatte, legte sie ihren Gehstock beiseite, stützte die Hände auf die Knie und blickte auf die Menschenmenge. Sie alle waren ihre Kinder, ihre Verantwortung, und nachdem das Standbild der Göttin jetzt erfolgreich aufgestellt worden war, würde sie bald mit dem beginnen müssen, was nur sie tun konnte. Es kam ihr oft seltsam vor, daß sie in ihrem hohen Alter so viele Kinder haben sollte, wenn die vier Kinder, die sie in ihrer Jugend zu Welt gebracht hatte, inzwischen verstorben waren; aber eine »Mutter aller Familien« brauchte nicht unbedingt lebende Kinder zu haben. Noch reichte es, einfach die älteste Frau von allen zu sein, obwohl das häufig der Fall war. Das Amt war nicht vererbbar; wenn sie eine streitsüchtige alte Frau gewesen wäre oder geistig nicht mehr auf der Höhe oder in irgendeiner Weise unfähig, hätten sich die Dorfmütter zu einer Beratung zusammengefunden und
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