Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
würde«, fuhr Ama fort, »aber er hat leider ein launisches Wesen, deshalb wird Xori ihn vermutlich weiter am Hals haben. Du entsinnst dich vielleicht, wie launisch und mürrisch der alte Bizkar sein konnte. Nun, dieser Fremde hier ist noch wesentlich schlimmer! «
Mutter Asha schmunzelte. »Ich habe dich in deinem Leben schon mit vielen schwierigen jungen Männern fertig werden sehen, Ama.«
»Schön und gut, aber dieser hier ist anders. Wer weiß denn schon, woher er kommt? Vom Ende der Welt vielleicht. Wir wissen, daß er ein menschliches Wesen ist, aber das ist auch so ziemlich alles.«
Mutter Asha musterte den Fremden von Kopf bis Fuß, und er erwiderte ihren forschenden Blick, nicht arrogant, aber so, als fände er die Vorstellung von zwei Frauen, die sich über ihn unterhielten, recht amüsant. »Versteht er unsere Sprache ?«
Ama zuckte die Achseln. »Ich glaube, er kennt inzwischen die Wörter für ›ja‹ und ›nein‹, aber dazu ist auch ein Hund fähig, wenn man sich lange genug mit ihm beschäftigt.« Sie seufzte. »Mutter Asha, was sollen wir denn nur mit ihm tun? «
Mutter Asha legte die Stirn in Falten. »Darüber muß ich erst nachdenken. Wir können ihn sicherlich nicht wie einen Ausgestoßenen in die Wildnis jagen, und angesichts dessen, was du mir erzählt hast, weiß ich nicht, ob ich ein anderes Dorf bitten kann, ihn aufzunehmen. Ich werde dir meine Entscheidung am Ende des Festes mitteilen.«
»Am Ende des Fests!« Ama hatte gehofft, die Angelegenheit würde geregelt sein, bevor einzelne Dorfgruppen aus Hoza aufzubrechen begannen. Es gab immer einige, die nicht die ganzen drei Tage bleiben kannten.
Mutter Asha schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Das ist das Problem mit euch jungen Leuten: Ihr seid einfach zu ungeduldig.«
Jung! dachte Ama. Hat sie mich gerade als »jung« bezeichnet? Sie unterdrückte ihren Ärger und verbeugte sich respektvoll, bevor sie den Fremden beim Arm nahm und davonging, um die anderen zu informieren, daß sie noch eine Weile auf die Entscheidung würden warten müssen.
Aber wie sich herausstellte, war es nur eine sehr kurze Weile. Ama blieb kaum genug Zeit, um sich in den Schatten ihrer eigenen Unterkunft zu setzen und einen Becher Wasser zu trinken, als bereits ein Bote von Mutter Asha eintraf, um sie zurückzubeordern.
»Sie sagt, du sollst den Fremden mitbringen«, erklärte der Bote. Er war ein junger Mann, der offensichtlich in aller Hast gekommen war, da er ganz rot im Gesicht und völlig außer Atem war. »Ich soll dir auch ausrichten, daß du Sabalahs Tochter, Marrah, mitbringen möchtest.«
Ama war verblüfft. »Was könnte die ›Mutter aller Familien‹ denn so bald schon wieder von uns wollen ?«
»Gerade ist eine andere Dorfgruppe eingetroffen, und sie haben mehr mitgebracht als nur die Gebeine ihrer Toten.« Der Bote zeigte auf den Fremden, der neben dem Lagerfeuer saß und seinen Bart mit einem Stückchen Treibholz kämmte. »Sie haben noch so einen wie
ihn
mitgebracht.«
Obwohl der Fremde noch schwach war, bestand er darauf, zu Fuß zu gehen, deshalb brauchten sie einige Zeit, um den Weg zurückzulegen, den ein gesunder Mann in wenigen Minuten geschafft hätte. Bei jedem Schritt des Weges verzehrten sich Ama und Marrah vor Ungeduld, aber es war unmöglich, den Fremden zu größerer Schnelligkeit anzutreiben, obwohl sie es ein paarmal versuchten, indem sie mit den Armen ruderten und die Laute ausstießen, die Hirten machten, wenn sie ihre Ziegen in den Pferch zurücktrieben.
Endlich waren sie am Ziel angekommen, um Mutter Asha wie eine grimmige alte Eule auf ihrer Plattform thronen zu sehen. Zu ihren Füßen stand eine Gruppe von Leuten, die Marrah noch nie zuvor gesehen hatte. Sie waren insgesamt fünf, staubbedeckt, erschöpft von der Reise und ziemlich verwirrt dreinblickend, zwei Männer und drei Frauen, von denen eine dem Alter nach eine Dorfmutter sein mußte.
Vor ihnen lag eine Tragbahre, ganz ähnlich der, mit der der Fremde aus Xori hertransportiert worden war, und auf dieser Bahre lag eine menschliche Gestalt, die von einer Decke aus Wildleder verhüllt war. Beim Anblick der Decke schnürte es Marrah die Kehle zu. Wer auch immer unter dieser Decke lag, war offensichtlich tot.
Mutter Asha wies mit einer Handbewegung auf die älteste der Frauen. »Dies ist Hega aus Zizare«, erklärte sie. Marrah erkannte den Namen des Dorfes, das ein ganzes Stück nördlich von ihrem eigenen lag. Zizare war berühmt für seine
Weitere Kostenlose Bücher