Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
ihres großen Körpers mit Kohle auf den Granit gezeichnet, in Tierfett getauchte Zweige auf die Linien gelegt, sie in Brand gesteckt und anschließend mit kaltem Wasser gelöscht, damit der Stein an dieser Stelle auseinanderbrach. Sie hatten sie losgeklopft, sie auf einen Schlitten aus Vierkanthölzern geladen, sie mit Seilen aus Pflanzenfasern festgebunden, und sie auf einer Reihe von Rollklötzen nach Hoza gezogen, die aus Eichenstämmen gefertigt waren. Tausend Männer waren nötig gewesen, um sie zu bewegen, und weitere zwanzig Männer, um die Rollklötze immer wieder von hinten nach vorn zu tragen, aber was spielte es für eine Rolle, wieviel Zeit und Schweiß und Mühe es gekostet hatte? Sie war ihre Göttin, ihre Mutter, ihr Liebling, und sie hatten gesungen und gebetet, als sie sie mühsam die Hügel hinaufgezogen und sie auf der anderen Seite in Richtung Meer hinuntergeschleppt hatten.
In Hoza angekommen, hatten die jungen Männer ihren Sockel zu einem geraden Stumpf zurechtgehauen, sie mit Blumen geschmückt und sie zurückgelassen, um mit den anderen Göttinnen Bekanntschaft zu schließen. Fast zwei Jahre lang ruhte sie dort und wartete auf das nächste Fest der Toten.
Dann, ungefähr vor einem Monat, waren die jungen Männer erneut nach Hoza gewandert, um eine rechteckige Grube zu graben, damit sie aufrecht darin stehen konnte. Die Grube hatte drei senkrechte Seiten und eine schräg abfallende. Als sie fertig waren, hatten die Männer sie langsam die Schräge hinunter in das Loch manövriert, ihren Kopf mit hölzernen Hebeln angehoben und Holzklötze unter sie geschoben. Die Klötze wurden »die Kopfkissen der Göttin« genannt, und was für Kopfkissen das waren! Sie stapelten sie aufeinander, Klotz für Klotz, bis sie fast aufrecht stand.
Wieder ließen sie sie eine Weile ruhen, und wieder warteten sie. Heute waren die Männer zurückgekehrt, um sie auf die Füße zu stellen und in eine aufrechte Lage zu ziehen, um sie zu lieben und ihr zu Ehren Lieder zu singen und sie zu bitten, ohne Hilfe zu stehen und sie zu segnen, aber keine Göttin war so leicht zu überzeugen, und kein Hebevorgang war ein Erfolg, bis er endgültig abgeschlossen war.
Als Marrah dastand und beobachtete, wie sich die jungen Männer abmühten und schwitzten und sangen, war die Spannung so unerträglich, daß sie bisweilen zu atmen vergaß. Die meiste Zeit jedoch jubelte sie und klatschte in die Hände wie ein Kind bei einem fröhlichen Fest. Einmal unternahm sie einen verspäteten Versuch, sich würdig zu geben, aber bevor sie wußte, was geschah, stand sie wieder auf den Zehenspitzen und hüpfte aufgeregt auf und nieder, um einen besseren Blick zu bekommen, während sie zusammen mit allen anderen Worte der Ermutigung rief.
Es war kein Wunder, daß sie sich fast heiser schrie. Wer wäre an Marrahs Stelle nicht aufgeregt gewesen? Es war nicht nur ihr erstes Fest, es war auch das erste Jahr, daß ihr Dorf mit der ehrenvollen Aufgabe betraut wurde, die Leitung bei der Aufstellung der Statue zu übernehmen. Sie hatte Freunde dort unter den Männern, die an den Seilen zogen – Vettern und Onkel und Nachbarn –, und ganz gleich, wie laut sie sie anfeuerte, immer konnte sie Gorriskas Stimme über den Lärm hinweg dröhnen hören, als er die Männer antrieb.
»Hebt die Große Eule, die uns alle segnet.
Hebt sie hoch!«
Das sang Gorriska. Angefeuert von seiner Stimme, zogen die jungen Männer noch härter an den Seilen, setzten ihre gesamte Kraft ein. Die ganze Nacht lang hatten sie gesungen und getanzt und sich in einen hypnotischen Zustand gesteigert, bis das Bewußtsein und der Wille des einzelnen mit dem der anderen zu einer Einheit verschmolz. Als sie jetzt das Steinbild in Richtung Himmel zogen, ihre geliebte Göttin an ihren Ruheplatz hoben, stiegen ihre Herzen mit ihr auf. Auf der anderen Seite des Steins zogen andere Männer an Seilen, die mit langen Hebeln verbunden waren, während wieder andere weitere Holzklötze und Baumstämme unter der Göttin aufstapelten, bis ihr Kopfkissen ein Turm wurde. Noch einen Moment, und der kritische Punkt wäre erreicht: Sie würde sich vollständig aufrichten und ohne Hilfe stehen, vielleicht bis in alle Ewigkeit, vielleicht auch nur für einen kurzen Augenblick.
Plötzlich schwankte der Stein und drehte sich leicht in dem Erdloch, und die Menge stöhnte erschrocken auf. Möge sie nicht fallen! betete Marrah und klammerte sich entsetzt an Amas Hand. Nein, das hier war einfach zu viel;
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