Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
sie konnte es nicht länger mitansehen. Hastig blickte sie weg, steckte sich die Finger in die Ohren, damit sie nichts davon hören würde, wenn der Stein zu Boden stürzte, und versuchte, an andere Dinge zu denken.
Hinter ihr, hoch über Hoza, ragte der Mutterschoß der Ruhe auf, den sie gestern zum ersten Mal mit eigenen Augen gesehen hatte, nachdem sie die anderen Dorfbewohner jahrelang davon hatte erzählen hören. Auf dem Gipfel eines kleinen, mit purpurroter und goldgelber Erika bewachsenen Hügels gelegen, war der Mutterschoß ein großer, kreisförmiger Bau aus Steinen, dessen Südostseite elf schmale Gänge aufwies, so angelegt, daß sie die Strahlen des aufgehenden Mondes einfingen. Die Türen der Gänge standen offen, bereit, die Gebeine der Toten aufzunehmen, und vor ihnen brannten bereits zeremonielle Feuer, die den süßen Duft von Kiefernholz und Kräutern in die klare Sommerluft verströmten.
Andere Gebäude gab es nicht, denn Hoza war keine Stadt im üblichen Sinne; sie war ein zeremonielles Zentrum, an einer windumtosten Stelle der Küste erbaut, wo nichts wuchs außer Heidekraut und verkümmerten Büschen. Die einzigen Häuser waren provisorische Unterkünfte, von Lagerfeuern erwärmt, die am Ende des Festes mit Seewasser gelöscht werden würden. Aber noch lange, nachdem die vielen Menschen in ihre Dörfer zurückgekehrt waren, würde alles im Umkreis von spiritueller Energie vibrieren. Diese Energie würde nicht nur vom Mutterschoß der Ruhe ausströmen, sondern auch von den langen Reihen der Göttinnenstandbilder, die sich zum Meer hinunter erstreckten – einige davon nur ein paar Fuß hoch, andere von gigantischer Größe. Jeder Stein stellte eine heilige Eule dar, die auf die Toten aufpassen würde, wenn Marrah und die anderen wieder gegangen waren, doch keiner war so groß wie die neue Göttin, die sie heute aufstellten.
Marrah zog die Finger aus den Ohren und hörte Ama unterdrückt nach Luft schnappen und mit leiser, ängstlicher Stimme etwas murmeln. Kein gutes Zeichen. Immer noch überzeugt, daß der neue Stein zu Boden stürzen und in tausend Stücke zerspringen würde, begann Marrah sich abzulenken, indem sie die alten Steine zählte: zehn, zwanzig ... fast siebzig Göttinnen waren es insgesamt.
Plötzlich stieg ohrenbetäubender Jubel von der Menschenmenge auf. Marrah konnte der Versuchung nicht länger widerstehen; sie blickte zurück zum Ort des Geschehens und sah die neue Göttin einen Moment lang gefährlich nach links kippen und dann – endlich – an ihren vorgesehenen Platz gleiten. Hastig sprangen die jungen Männer aus dem Weg, um ihre Seile an Dutzenden von hölzernen Pflöcken festzubinden, die tief in die steinige Erde geschlagen und fächerförmig auf dem Boden verteilt worden waren, so daß die Steinsäule aufrecht gehalten wurde wie der Mast eines riesigen Zeltes.
»Alle Achtung! « riefen die Leute lobend. »Gut gemacht!«
Die jungen Männer wichen erleichtert zurück, erschöpft und in Schweiß gebadet. Es war geschafft! Einige drehten sich um und lächelten den Zuschauern benommen zu, als wären sie sich jetzt erst der Tausende von ängstlichen Gesichtern um sich herum bewußt geworden. Sie griffen nach Krügen voll Wasser, tranken durstig und gossen sich den Rest über Kopf und Schultern, um die Wassertropfen danach wie Seehunde abzuschütteln. Obwohl die Aufstellung der Göttin ein Erfolg gewesen war, war ihre Arbeit noch nicht beendet. Felsblöcke und Erde mußten noch zu Füßen der Statue aufgeschichtet werden, um sie zu stützen, aber der gefährlichste Augenblick war glücklicherweise vorbei. Die Göttin war nicht umgestürzt, und falls nicht Amonah selbst einen starken Sturm schickte, um die Seile zu zerreißen, würde sie viele Generationen lang dort stehen und über die Toten wachen.
Es gab eine Redensart unter den Angehörigen des Küstenvolks, daß es zwei Dinge gab, die unbeaufsichtigt zu lassen höchst gefährlich war: Feuer und die Kraft von jungen Männern. Beide waren kostbar, doch beide mußten sinnvoll genutzt und gut unter Kontrolle gehalten werden, sonst konnten sie ausarten und große Zerstörung anrichten.
»Ihr habt sie mit eurer Kraft verehrt«, rief die Menge den Männern zu. »Wir lieben euch! Wir ehren euch! Nur ihr seid dazu imstande gewesen!«
Die jungen Männer lächelten voller Stolz und Zufriedenheit. Eine neue Göttin war aufgestellt worden, um die Toten zu schützen; alle Dörfer des Küstenvolks waren wieder einmal
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